Mediatorin erklärt: So lässt sich das Streik-Dilemma zwischen Bahn und GDL lösen

Die Situation zwischen Bahn und GDL ist festgefahren und lähmt ganz Deutschland. Je länger der Konflikt dauert, desto emotionaler wird er. Eine Mediatorin erklärt, was jetzt noch hilft

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Frau Bielecke, die GDL-Lokführer bestreiken die Deutsche Bahn nun schon zum sechsten Mal innerhalb weniger Monate. Vor drei Jahren hat eine Einigung ebenfalls lange auf sich warten lassen. Man hat das Gefühl, ein Deja-vue zu erleben, oder? 
Einerseits ja, andererseits auch nicht. Denn wenn man sich an dem bekannten Modell des Konfliktforschers Friedrich Glasl orientiert – dem so genannten Konflikteskalationsstufenmodell – dann rutschen die Streikparteien gerade noch ein bisschen weiter in Richtung „Abgrund“ als früher.

Wie sieht dieser Abgrund genau aus?
Das Modell beschreibt eine Treppe mit neun Stufen nach unten. Mit jeder dieser Stufen nehmen die Verhärtungen im Konflikt zu: Man glaubt immer fester an seine eigene Sichtweise und versucht, das Gegenüber davon zu überzeugen. Gleichzeitig wechselt man nicht mehr die Perspektive, um eine Idee davon zu gewinnen, was die andere Seite will. Und je mehr das passiert, desto mehr schwindet die Empathie für die andere Seite und desto weniger gelingt es, auf sie einzugehen.

Der eigene Blick wird also immer enger, je weiter man die Treppe nach unten steigt?
Genau, die Emotionalität nimmt zu und das Umfeld gerät aus dem Blick, bei GDL und Bahn zum Beispiel das Image des Unternehmens oder die Fahrgäste. Jede Seite ist im Konflikt davon überzeugt, dass sie Recht hat. Lösungsspielräume, die vorher noch möglich waren, werden eher verschenkt. 

Bio Alexandra Bielecke

Es geht beim Streik offensichtlich nicht nur um die Inhalte, sondern auch um persönliche Befindlichkeiten.
Ich glaube, dass beide Seiten versuchen, das Beste für ihre jeweilige Organisation herauszuholen. Aber bei der Art und Weise, wie miteinander gesprochen und verhandelt wird, sind Verletzungen wahrscheinlich, zum Beispiel bei der Bewertung der Lösungsvorschläge der jeweils anderen Seite oder der Wahl der Überzeugungsmittel. Die Deutsche Bahn hat versucht, die Streiks vor Gericht abzuwenden, was durchaus legitim ist. Gleichzeitig wechselt sie damit die Ebene – sicherlich auch in der Hoffnung, die Instanz „Gericht“ möge ihr Recht geben. 

Die Situation wirkt festgefahren wie lange nicht, eine neutrale Instanz scheint mittlerweile der einzige Ausweg zu sein. Brauchen Bahn und GDL ein Schlichtungsverfahren?
Ich sehe auch nur das, was nach außen kommuniziert wird. Aus guten Gründen sind die Verhandlungsinhalte geschützt. Ich habe den Eindruck, dass beide Parteien sehr lange versucht haben, alleine zu verhandeln. Das ist immer der erste Schritt: gemeinsam am Verhandlungstisch zu sitzen. Der nächste Schritt ist eine Mediation oder Moderation, was Bahn und GDL auch versucht haben. Dabei gibt es zwei unabhängige Vermittler, die dafür sorgen, dass jede Seite gehört wird, dass Gesprächsbeiträge ausgewogen sind und das Gespräch insgesamt sachlicher verläuft. Moderatoren unterbreiten allerdings keine Lösungsvorschläge.

Dazu kommt es erst im Schlichtungsverfahren?
Genau, das wäre der nächste Schritt. Hierbei müssen beide Seiten Verantwortung an eine dritte Person abgeben, der sie vertrauen und die die eigenen Interessen gut in einen Lösungsvorschlag integriert.

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Was kann ein Schlichtungsverfahren, was Verhandlungen nicht können?
In Verhandlungssituationen passiert es relativ oft, dass man die eigenen Zugeständnisse überschätzt und die des anderen geringschätzt. Parteien sind zudem in der Verhandlung stark gefordert, selbst Lösungsvorschläge zu unterbreiten und Angebote zu machen. Dabei entsteht schnell das Gefühl: Wenn ich etwas abgebe, gewinnt der andere. Fühlt man sich nicht adäquat angesprochen oder sogar abgewertet, ist diese Bereitschaft eventuell begrenzter. Dazu stehen beide Seiten unter Druck durch die öffentliche Beachtung. Was der Presse angekündigt wurde, spielt eine Rolle. Menschen verlieren nicht gerne ihr Gesicht. Wie sehen das zum Beispiel die Mitglieder, wenn Zugeständnisse gemacht werden?

Und bei der Schlichtung?
Da kann sich jeder wieder etwas mehr zurücknehmen und auf die eigenen Interessen besinnen. Mit den Schlichterinnen und Schlichtern gibt es eine andere Instanz, die beide Seiten im Blick behält und die vielleicht einen Lösungsspielraum aufzeigt, den eine Partei schon gar nicht mehr formulieren oder sehen konnte. Es ist die Aufgabe der Schlichter, aus den möglichen Lösungsoptionen einen konkreten Vorschlag zu unterbreiten.

„Menschen, die nicht gehört werden, verhalten sich auch unerhört“, Mediatorin Alexandra Bielecke

Die Stimmung zwischen den Parteien ist in der Regel sehr angespannt, wenn sie sich wieder an einen Tisch setzen. Sie kritisieren vor allem die kämpferische Sprache auf beiden Seiten. Müssen die Schlichterinnen und Schlichter dann erstmal für gute Stimmung sorgen?
Ich stelle mir durchaus vor, dass es eine gewisse Ohnmacht und Verzweiflung gibt, bei der jeweils anderen Seite „auf Granit zu beißen“. Das ist kein schönes Gefühl. Wenn eine Person von außen dazukommt, wird sie wahrscheinlich erstmal Fragen stellen und zuhören: Warum ist Ihnen das wichtig? Wieso hängen Sie genau an dieser Zahl? Das allein kann für Erleichterung sorgen. Menschen, die nicht gehört werden, verhalten sich auch unerhört. Gelingt es, Emotionen anzusprechen und die Gründe für die schlechte Stimmung zu thematisieren, nimmt das zusätzlichen Druck aus den Gesprächen.

Zeigen Schlichterinnen und Schlichter denn auch Grenzen auf?
Manchmal halten sie den Spiegel vor und sagen, wenn in einem Angebot wirklich wenig Spielraum war – aber konstruktiv. Sie stellen Fragen und helfen der Partei, sich auf den guten Gedanken zurückzubesinnen und vielleicht doch nochmal im eigenen Lösungskoffer nach einer Idee zu kramen.

GDL-Chef Claus Weselsky betont immer wieder, dass die Bahn „stur“ sei und nicht von ihrer Position abrücke, beharrt aber selbst auf seinen Forderungen. Eine zusätzliche Zwickmühle ist, dass die Tarifverträge der GDL mit anderen Bahnunternehmen an den Abschluss der 35-Stunden-Woche mit der Deutschen Bahn gebunden sind. Wie findet man da einen Kompromiss?
Das ist eine sehr schwierige Aufgabe und es ist alles andere als leicht zu sagen, wer hier die „bessere“ Partei ist. Von außen denkt man schnell, Herr Weselsky sei mit seinen Forderungen nicht mehr auf dem Boden der Tatsachen und es gibt sicherlich auf beiden Seiten persönliche Interessen. Die Gemengelage ist allerdings auch besonders kompliziert, weil es innerhalb der Bahn so viele verschiedene Gesellschaften mit unterschiedlichen Tarifverträgen, möglichen Zulagen, Ausbildungen und so weiter gibt. Das lässt sich auch mit Modellen in anderen Ländern kaum vergleichen. Deswegen ist es extrem schwierig, zu beurteilen, was ein vergleichbarer guter Lohn ist. Es besteht die Hoffnung, dass eine dritte Person die Grenzen von Vergleichsmodellen aufzeigt und den Rahmen für Verhandlungen wieder öffnen kann.

Die Bahn hat sich offen für ein Schlichtungsverfahren gezeigt. Hat sie damit den ersten Schritt zur Deeskalation gemacht?
Ich denke, ja. Die Bahn hat großes Interesse daran, eine gute Lösung zu finden. Man kann nur hoffen, dass sich die GDL ebenfalls einlässt. Ein Schlichtungsverfahren ist im Grunde kein Verlust, sondern wieder ein Gewinn an Verhandlungsmöglichkeiten.

GDL Streik FAQ: Wie es im Tarifstreit weitergeht7.25

Wie lange würde so ein Schlichtungsverfahren dauern?
Die Dauer sollte auf jeden Fall vorher festgelegt werden. Sonst ist es zu einfach, wieder vom Verhandlungstisch aufzustehen und zu sagen, wir können uns sowieso nicht einigen. Man könnte es zum Beispiel mit vier Wochen probieren, das würde den Druck rausnehmen und den Beteiligten die Möglichkeit geben, über einen Vorschlag nachzudenken. Bisher gibt es immer Sorge vor Verzögerungen des Prozesses, vor den nächsten Gerichtsverfahren oder Streiks. 

Es wird nun sogar über eine Reform des Streikrechts diskutiert. Sollte ein Schlichtungsverfahren vor Streiks Gesetz werden? 
Ich halte es für schwierig, ein bestimmtes Verfahren festzusetzen. Aber man kann auf jeden Fall festlegen, dass es nicht sofort zum Streik kommen kann, sondern zuerst verhandelt werden muss. Das kann abgestuft sein, von der alleinigen Verhandlung zu einer Moderation zur Schlichtung. Das Problem dabei ist nur, dass niemand zu einer konstruktiven Gesprächsform gezwungen werden kann. Die Grundhaltung der Parteien ist in einem Gespräch immer entscheidend.

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