Hinter der Geschichte: Mädchenmord in Freudenberg: Wie ich in einen TikTok-Krieg geriet

Die zwölfjährige Luise F. wurde vergangenes Jahr von ihren beiden Mitschülerinnen ermordet. Der Fall berührte ganz Deutschland – manche aber, so scheint es, haben sich bei der Suche nach Antworten verloren.

Making-of heißt unser neues Format. Wir wollen Ihnen einen persönlichen Blick hinter die Kulissen ermöglichen, aus unserem journalistischen Alltag erzählen und von unseren Recherchen.

Geht es um Luise, das Mädchen aus Freudenberg, das vor genau einem Jahr von ihren Freundinnen umgebracht wurde, wird entweder geschrien oder geschwiegen. Es scheint kein Dazwischen zu geben. Das denke ich mir, als wieder einmal eine Instagram-Meldung aufpoppt: Arthur (Name geändert) hat dein Bild kommentiert. Es ist Anfang Dezember, ich habe ein Bild meines Artikels zu diesem Fall auf Social Media gepostet. Eine monatelange, sehr intensive Recherche. Laut Arthur sei das, was wir geschrieben haben, falsch. Doch dazu gleich mehr.

Ein paar Monate zuvor. Mein Kollege Michael Streck und ich waren das erste Mal nach Freudenberg gereist. Es sind ein paar Wochen vergangen, seit Luise, von ihren Mitschülerinnen erstochen, im Wald gefunden wurde. Wir wollen wissen: Was macht das das mit einer Stadt, wenn ein solches Verbrechen geschieht?

Doch auf E-Mails bekommen wir Absagen oder gar keine Antworten. Am Telefon reagieren viele genervt. Zu längeren persönlichen Gesprächen kommt es erst gar nicht. Man dürfe, man wolle, man könne nichts sagen.

Interview Fall Luise Helmut Remschmidt 7.01

Eines aber hören wir immer wieder: Geradezu eingefallen seien die Journalisten in die Stadt, als bekannt wurde, was hier geschehen war. Das schöne Freudenberg sei in Verruf geraten. Manche Journalisten, so erzählt man uns, hätten Schulkindern Geld für Aussagen über Luise angeboten, seien ins Schulgelände ein- und bis zum Sekretariat vorgedrungen, in der Hoffnung, ein Statement der Schulleitung zu kriegen. Die englische Yellow Press habe sogar bei den Täter- und Opferfamilien an der Tür geklingelt. Mit eingeschalteter Videokamera.

Kein Wunder also, dass niemand mit uns Journalisten reden will. Nur arbeiten nicht alle Journalisten gleich.

Freudenberg schweigt. Wir reisen das erste Mal ab. Frustriert. Nur ein Hoffnungsschimmer, ein paar Leute sagen zu uns: „Vielleicht reden wir zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihnen.“

Wochen später kommen wir das zweite Mal nach Freudenberg. Noch immer schweigen die meisten, aber ein kleiner Teil der Leute, die uns bei unserem vergangenen Besuch gesagt haben, sie würden vielleicht sprechen, tut das wirklich. Besuch für Besuch kommen wir den Antworten auf unsere Fragen immer näher.

Ein Mensch, mit dem wir gesprochen haben, war Sven Dickel. Er zeigte uns, wie sehr der Tod von Luise manche Menschen in Deutschland berührte. Mit einem örtlichen Unternehmer hat er einen Gedenkstein nahe dem Fundort der Leiche aufgestellt. Er und andere Engagierte pflegen in ihrer Freizeit, nach Feierabend und am Wochenende die Gedenkstelle, entsorgen Müll, pflanzen Tulpen, Luises Lieblingsblumen. Nur wenige der Helfer kennen die Familie des Opfers oder eine der Täterfamilien persönlich. Dickel kommt aus der Nähe von Freudenberg, die meisten anderen wohnen in ganz Deutschland verteilt.

STERN PAID 50_23 Freudenberg Tod 15:25

Dickel und seine Helfer kümmern sich nicht nur um den Gedenkstein, sie haben auch eine Facebook-Gruppe eingerichtet, „In Gedenken an Luise“. Ein paar von ihnen sind außerdem im Netz unterwegs, nicht nur auf Facebook, insbesondere auf TikTok und Instagram. Sie spähen nach solchen, die mit Fake-Accounts Fake News, Gerüchte und Irrsinn verbreiten.

Leute wie Arthur, der Mann, der meine Kommentarspalten zuspammte, bis ich ihn irgendwann blockierte. Leute wie Arthur, die regelmäßig Videos zum Fall Luise posten. Schnell aneinander geschnittene Schnipsel hinter reißerischen Zeilen, unterlegt mit dramatischer Musik.

Es gibt viele solcher Accounts. Schon kurz nach der Tat poppten die Ersten auf. Manche veröffentlichten Bilder und Videos der Täterinnen, auch Luise selbst war zu sehen. Wenig später wurden die Klarnamen aller Beteiligten veröffentlicht. Sogar die Namen der Familienangehörigen und deren Jobs. Alles für jeden nachlesbar. Es folgten Morddrohungen, Hass, Forderungen, man möge bitte die Adressen der Täterinnen in die Kommentare schreiben. Man wolle sich rächen. Selbstjustiz.

Andere nutzten die Welle der Aufmerksamkeit. Sie gaben sich als Schwester von Luise aus, sogar als eine der Täterinnen, und gewannen so neue Follower. Auch die Verschwörungstheoretiker profitierten vom Hype und generierten Likes mit ihren kruden Gespinsten.

Einer der Männer, die meinen Beitrag kommentiert haben, kommentiert auch unter den Beiträgen von Dickels Umfeld. Auch er hat einen eigenen TikTok-Channel mit Videos rund um Luise. Die belegte Version – zwei Schulmädchen bringen aus Eifersucht ein Mädchen martialisch um – scheint Menschen wie ihm nicht spektakulär genug zu sein. Manche dichten weitere Täter hinzu, den Vater einer der Täterinnen zum Beispiel. Alles wird noch schlimmer und noch extremer dargestellt.

Während sich die Beiträge aus Dickels Gruppe mit der Aktenlage und den zahlreichen Statements unserer Gesprächspartner decken, sind die Aussagen der „Hetzer“, wie er sie nennt, nicht belegbar oder sogar widerlegt. Die Hetzer hätten seine TikTok-Follower angeschrieben, beleidigt, diffamiert und zum Teil sogar bedroht, obwohl sie nichts mit dem Fall zu tun hätten, schreibt Dickel im November auf Facebook.

Paid_Freudenberg Interview 11.50

In den Tagen nach dem ersten Kommentar von Arthur schickt Dickel mir immer wieder Screenshots aus TikTok. Ein Fake-Account schreibt beispielsweise das Umfeld der betroffenen Familien an: „Wir sind eine große Pressestelle des Verlags stern“, heißt es da, „wir würden gerne mit Ihnen ein Interview führen.“ Ist das der verzweifelte Versuch, um an Antworten zu kommen? Antworten, die in ihr Weltbild passen?

Rund um den Fall Luise haben sich zwei Fronten gebildet. Und ich als Reporterin bin zwischen die Fronten geraten. Weil wir berichtet haben, wie es gewesen ist – und nicht, wie es hätte gewesen sein können. Wahrheit ist wichtig. Aber sie tut manchmal auch weh.

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