Fortschritt für uns alle: Wie ein gutes Zusammenspiel von Mensch und Maschine Eingriffe besser und sicherer macht

Allen Stimmungsschwankungen im Medizinalltag zum Trotz: Innovationsfreude und Kunstfertigkeit sind sehr vital.

Die Londoner Buslinie 38 verkehrt seit 1912. Sie passiert den Piccadilly Circus, die großen Museen und den Buckingham Palace, bis es schließlich an der weltberühmten Victoria Station „Alles aussteigen“ heißt. Die meisten Spontanstopps auf der gegenwärtig – je nach Tageszeit – zwischen einer Dreiviertel- und einer guten Stunde dauernden Tour sind unpopulär, schließlich ist die Millionenmetropole chronisch staugeplagt. Ein ungewöhnlicherer außerplanmäßiger Halt eines roten Doppeldeckers aber lässt sich auf einen (verzeihlichen) Vorsatz zurückführen: Vor gut vier Jahrzehnten stellte sein Fahrer den Bus direkt vor dem Shaftesbury Hospital ab, fußläufig etwa zehn Minuten südlich des Britischen Museums, und trat ein.

Ein Notfall war es nicht – im Gegenteil. Der Mann war gekommen, weil er hier gesund gemacht worden war: Er wollte den Medizinern Dank abstatten. Ganze acht Tage nachdem man ihn im Shaftesbury von den Qualen seines Nierensteines befreit hatte, saß der Fahrer bereits wieder am Steuer seines Doppeldeckers. Anzurechnen war das unter anderem, eher sogar vor allem, John Wickham (1927–2017), einem Professor für Urologie und großen Innovator mit rebellischem Instinkt, in dessen Lebenserinnerungen die Bus-Episode Eingang gefunden hat.

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Wickham nämlich ist der Mann, der der Welt einen jener wenigen medizinischen Fachbegriffe gab, die so gut wie jedermann versteht: „minimalinvasiv“. Er prägte ihn 1986, und 1989 obendrein noch die Bezeichnung „minimalinvasive Chirurgie“. Außerdem begründete Wickham gleich die erste speziell darauf konzentrierte ärztliche Fachgesellschaft. Er arbeitete intensiv mit Gleichgesinnten in den USA, Frankreich und nicht zuletzt auch in Deutschland zusammen. Von dort importierte Wickham dann alsbald auch den ersten britischen Lithotripter nach London – jene Stoßwellenmaschine des im Flugzeugbau wurzelnden Herstellers Dornier, mit der sich Steine wie der des Busfahrers sogar von außerhalb des Körpers ganz ohne Schnitte zertrümmern lassen. Das Prinzip des Steinzerstiebers hatte man in Bayern unter anderem aus Tragflächenstudien am Starfighter abgeleitet, gefördert mit Geldern des Bundesverteidigungsministeriums: ein Technologietransfer mit Cleverness.

Minimalinvasive Verfahren – von der Revolution zum Normalfall

In jener goldenen Ära des medizintechnischen Fortschritts also trat auch diese neue Therapie in die Medizin ein – wie viele andere. 1983 etwa ging in Missouri, USA, der erste kommerzielle Kernspintomograf in Betrieb, ein Siemens Magnetom, dessen Prototyp bereits in der Medizinischen Hochschule Hannover 800 Patienten frei von Röntgenstrahlen-Belastung durchleuchtet hatte. Und die Liste ließe sich weiter verlängern, um Ultraschall und Positronenemissionstomografie, superschnelle Computertomografen (CT) für die Notaufnahme und vieles andere mehr.

Einen der bahnbrechendsten Wendepunkte in der Geschichte der operativen Medizin aber stellte die Philosophie des minimalinvasiven Eingriffs selbst dar. Allerdings machten sich Wickham und sein internationaler Kollaborationskreis mit ihr nicht nur Freunde. Ihre neuen Methoden stellten schließlich nicht nur die hergebrachten, handwerklich anspruchsvollen Verfahren der Chirurgie infrage, sondern auch deren Vorrangstellung bei allem, was operativ im menschlichen Körper zu heilen ist. In England stach der resultierende Interessenkonflikt besonders deutlich ins Auge – in der britischen Medizin nämlich war die in Deutschland lange bereits vergessene tiefe Spaltung der Profession in „Physicians“ (die Ärzte) und „Surgeons“ (die Chirurgen, in früheren Zeiten auch „Wundärzte“ genannt) unberührt geblieben: Operateure und nicht invasive Doktoren unterhielten jeweils ein eigenes – natürlich elitäres – Königliches Kollegium in gehobenen Londoner Lagen, verbunden mit einem je eigenen Standesbewusstsein und Deutungsanspruch.

Der klassische Ansatz: ein beherzter Schnitt, ein gutes Auge und eine geübte Hand
© Karsten Petrat

Für den wortgewaltigen Polemiker Wickham stellten sich die Chirurgen seiner Tage als Leute dar, die Löcher in Menschen schnitten, in die man seinen Kopf zu stecken vermochte, um sich beim Hantieren (etwa an der Niere) richtig gut umschauen zu können. Dadurch würden sie dann, so Wickham, wochenlange Genesungszeiten verursachen, Komplikationen auslösen und Krankenhausbetten blockieren.

Gewiss: Jede bedeutende Innovation bringt Umverteilungen. Und bei jeder Umverteilung hat so mancher so manches zu verlieren. Das erklärt den scharfen Ton jener Tage – der ist bei Umbrüchen in der Medizin ganz normal. Die Chirurgen hatten ja ihre eigene Emanzipation vom nachrangigen Handwerk mit leichtem Feldlazarettgeruch im Jahrhundert zuvor ebenfalls aufgrund bahnbrechender Innovationen gegen alle Widerstände durchgesetzt: Steriles Operieren besiegte die lange vermeintlich unvermeidbaren Wundinfektionen und überwand die hohe Sterblichkeit bei vielen Eingriffen. Und die Narkose machte sie erträglich und befreite sie für die Patienten so vom Stigma des Mittels letzter Wahl.

Patienten als wichtige Verbündete der Technikpioniere

Zyklen der Ablösung des lang Bewährten durch das Neue haben sich also in der Medizingeschichte stets wiederholt. Antibiotika und Hygiene lösten die Höhenkliniken für Lungenleidende ab, der Herzkatheter einen Großteil offener Eingriffe im Brustkorb. Und praktisch immer war damit ein Aufstieg neuer Vorreiter-Disziplinen in Kliniken und Praxen verbunden. Eine der jüngsten solcher Emanzipationsgeschichten medizinischer Fachrichtungen erlebte die Radiologie, deren enormer Aufstieg ebenfalls in der Wickham-Ära begann und bis heute anhält. Es war oftmals sogar ein Aufstieg im wahrsten Sinne des Wortes: In vielen Krankenhäusern der industrialisierten Welt arbeiteten die Röntgenärzte tatsächlich in tiefen Katakomben der altehrwürdigen Bauten, in denen Innere und Chirurgie die besten Korridore okkupierten. Das nur teilweise scherzhafte Klischeebild des durchleuchtenden Fachs unter Kollegen spiegelt sich im typischen Medizinerwitz über den Umfang des (angeblich vollständigen) Arzt-Patienten-Gesprächs während des Termins wider: „Tief einatmen. Luft anhalten … und … ausatmen.“ Die Kernkompetenz des Fachs wurde so auf eine Art fortgeschrittene Fotografie inklusive des Vermögens, gut Bilder interpretieren zu können, reduziert. Mit der Wirklichkeit unserer Tage hat all das nichts mehr gemein.

und diese veränderte Wirklichkeit ist auch Grund dafür, warum Sie in diesem Heft eine neue Ärzteliste finden: Das Fach „Interventionelle Radiologie“ ist hinzugekommen. Es hat die Synthese aus minimalinvasivem Operieren und modernster zwei- und dreidimensionaler Bildgebung geschaffen – seine Fachärztinnen und Fachärzte vermögen winzige Instrumente durch den ganzen Körper zu navigieren. Sie lenken ihr Tun von außen, unter anderem dank Computertomografie. Vorgänger aus verwandten Disziplinen hatten dazu noch raffinierte Mikrokamerasysteme in den Körper einbringen müssen.

Permanent im Dialog: Innovative Mediziner führen viele Perspektiven zusammen
© Karsten Petrat

Philipp Paprottka, Professor an der Technischen Universität München, zählt zu den führenden Vertretern des Fachs. Er steht in der laufenden Wahlperiode auch dessen Fachgesellschaft vor, der Deutschen Gesellschaft für Interventionelle Radiologie (DeGIR). Wie viele Ärztinnen und Ärzte, so erzählt er, wurde auch er von einer überraschenden Liebe zu seiner endgültigen fachlichen Ausrichtung befallen – ursprünglich nämlich wollte Paprottka Unfallchirurg werden. Ein Fach, so fordernd wie dramatisch, in dem schnelle Entscheidungen, zielgerichtetes Handeln und ein sicheres Auge gefordert sind. Mittlerweile jedoch weiß er: Auch bei mannigfachen schweren Verletzungen hat die Interventionelle Radiologie die richtigen Werkzeuge im Arsenal. „Nehmen Sie zum Beispiel den Beckenbruch. Arterielle Blutungen dort sind oftmals lebensbedrohlich, doch die Blutgefäße sind kompliziert und individuell verzweigt. Sie benötigen gute Orientierung, um die Blutungen zu stillen. Und es muss schnell gehen.“ Nicht nur wegen des rapiden Blutverlusts, den man dank Transfusionen zeitweilig kompensieren kann. Aber jede weitere Blutkonserve verschlechtert die Prognose. Um zugleich die arteriellen Verzweigungen mithilfe von Kontrastmittel darstellen zu können als auch den Überblick im gesamten Feld eines lebensrettenden Eingriffs zu erlangen, haben Paprottka und sein Team im Universitätsklinikum der Technischen Universität München jüngst im großen Maßstab gebaut. Jetzt verfügen sie über einen Hybridraum, in dem sie die angiografische Darstellung der Gefäße und die dreidimensionale Bildgebung mit dem Computertomografen zusammenführen, unterstützt von Algorithmen, die eine solche Gesamtschau erst ermöglichen. Damit stillt man Blutungen teils in Rekordzeit: Notfälle stellen längst wesentliches Arbeitsgebiet der Interventionellen Radiologie dar.

Vielseitige Risikominimierung dank neuer Technologien

Aber eben nur eines aus einer sehr breiten Palette, sagt Philipp Paprottka: „Viele Menschen wissen zum Beispiel, dass wir in der Lage sind, minimalinvasiv verschlossene Gefäße zu öffnen.“ Am Bein etwa lassen sie sich mit einem Stent stabil offen halten, ähnlich, wie es die Kardiologen seit Langem mit dem Katheter an Herzkranzgefäßen tun. Aber es geht auch viel subtiler, etwa auf dem Feld der Neuroradiologie. Aneurysmen, Ausbuchtungen etwa von Hirnarterien, lassen sich mit winzigen Metallgeflechten, den „Coils“, verfüllen – die Gefahr einer plötzlichen Hirnblutung durch Aufplatzen ist gebannt. Auch bei vielen akuten Schlaganfällen bietet sich eine Behandlung mit dem von der Leiste aus geführten Katheter an: Interventionelle Radiologen oder Neuroradiologen können das Gerinnsel, das einer Hirnregion den Blutstrom raubt, ganz gezielt entfernen.

Zu den ganz allgemeinen und geläufigen Vorzügen des minimalinvasiven Arbeitens unter Bildgebungskontrolle zählt, dass es in aller Regel keiner Vollnarkose bedarf – das ist gerade für ältere Kranke bedeutsam, weil sie durch die Anästhesie deutlich stärker belastet werden. „Viel weniger bekannt ist zum Beispiel, dass die Interventionelle Radiologie längst eine weitere und wesentliche Säule der Tumorbehandlung darstellt“, sagt der Professor, „wir können heute durch einen drei Millimeter langen Schnitt einen drei Zentimeter großen Tumor zerstören, oftmals so, dass er nicht wiederkehrt.“ Und durchaus auch in Fällen zumindest Lebenszeit gewinnen, die mancherorts bereits als nicht mehr therapierbar gelten. Er hoffe, sagt Paprottka, dass sich das Wissen um die Möglichkeiten seines Faches bei den Patientinnen und Patienten rasch weiterverbreite. Vom Anbeginn der minimalinvasiven Medizin an haben sich besonders die gut Informierten unter ihnen immer wieder als wichtige Verbündete der Innovatoren erwiesen: Sie suchten ganz gezielt nach den schonenderen und – wie Philipp Paprottka es ausdrückt – durchaus „eleganten“ Methoden.

Bald ein halbes Jahrhundert nach dem Höflichkeitsbesuch des geheilten Londoner Busfahrers stehen noch immer viele Fortschrittspfade offen: Die medizinische Robotik entwickelt sich fort – John Wickham, der große Pionier, war bereits Mitentwickler eines Operationsautomaten gewesen, doch für diese Maschine war die Zeit damals noch nicht reif. KI und Telemedizin werden stark computerbasierten Fächern wie der Interventionellen Radiologie sicherlich ganz neue Perspektiven eröffnen, auch außerhalb der Metropolen wohlhabender Länder Menschen zu heilen. Und, wie damals auch, dürfte am Ende der nächsten Sprünge nach vorn eine fruchtbare Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen „Geschmacksrichtungen“ der Medizin stehen, wie wir sie heute schon von der engen Verzahnung von Herzchirurgie und Kardiologie in den Herzzentren oder aus den interdisziplinären Tumorkonferenzen kennen.

Und schließlich gilt es, das ist ja nicht nur eine Tugend der Busfahrer, Dank zu sagen: Für die Recherchen der neu hinzugekommenen Liste „Interventionelle Radiologie“ konnte unser Rechercheinstitut Munich Inquire Media (MINQ) eng mit der von Philipp Paprottka geführten Fachgesellschaft DeGIR kooperieren. Dadurch wurde, wie Minq-Redaktionsleiterin Mirjam Bauer berichtet, ein sehr hoher Rücklauf bei der Beantwortung der zugehörigen Ärzte-Befragung in diesem Fach erreicht (siehe die Darstellung der Methodik auf den folgenden Seiten). Viele Ärztinnen und Ärzte standen unserem Team auch persönlich als Interviewpartner zur Verfügung.

Methodik Ärzte 2024

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