Karibikstaat in der Krise: Gescheitertes Paradies: Worum geht es bei dem Konflikt in Haiti?

Seit langem gilt der Karibikstaat Haiti als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre. Doch die jüngsten Ausschreitungen bilden einen traurigen Höhepunkt: Gangs haben die Hauptstadt Port-au-Prince überrollt, Regierungschef Ariel Henry ist zurückgetreten. Wie kam es dazu?

Der Regierungschef schmeißt hin, über der Hauptstadt steigt dicker, schwarzer Rauch auf, Abertausende fliehen. Ein Paradies versinkt im Chaos.

Zwar befindet sich der Karibikstaat Haiti nicht erst seit gestern im Würgegriff der landesweit mehr als 200 Banden. Doch in den vergangenen Tagen und Wochen hat die Gewaltspirale neue Höhen erklommen.

Am Montag gab Ministerpräsident Ariel Henry seinen Rücktritt bekannt. Damit ist der bitterarme Staat, der den westlichen Teil der Insel Hispaniola einnimmt, endgültig der Willkür Krimineller ausgeliefert.

Wie konnte es so weit kommen?

Ein historischer „failed State“?

War Haiti von Geburt an zu einem Schicksal als „failed state“, als gescheiterter Staat verurteilt? Ja und nein. Fest steht, die Geschichte des Landes war von Beginn an eng mit Ausbeutung und Gewalt verknüpft. Haiti errang 1804 als erster Karibikstaat überhaupt die Unabhängigkeit. Allerdings waren die ehemaligen Sklaven aus Afrika die Fesseln ihrer einstigen Kolonialherren noch lange gänzlich nicht los. Bis Mitte der 1950er-Jahre bestand Frankreich auf umgerechnet 20 Milliarden Dollar Reparationen – eine „Entschädigung“, die lange Zeit einen Großteil des Staatseinkommens verschlang. Auch die USA haben sich seit ihrer teils blutigen Besatzung Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder in die haitianische Politik eingemischt und haben im Grunde fast jede Regierung mitzuverantworten.

„Die ständige Einmischung der internationalen Gemeinschaft in den letzten 220 Jahren hat Haiti zu einem gescheiterten Staat gemacht, denn die Menschen haben kein Mitspracherecht in ihrem Leben, sie haben kein Mitspracherecht in Bezug auf ihre Zukunft, weil die internationale Gemeinschaft das Land zu einem Marionettenstaat gemacht hat“, sagt Daniel Foote, der ehemalige US-Sonderbeauftragte für Haiti dem britischen „Guardian“. PAID CRIME 43 Bilder, die reden

Wie kam es zur jüngsten Eskalation in Haiti?

In dem Karibikstaat mit seinen heute rund zwölf Millionen Einwohnern kommt es seit Mitte 2018 immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Gewaltausbrüchen, vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince

Auslöser war die Ermordung des umstrittenen Präsidenten Jovenel Moïse im Juni 2021. Moïse war in seinem Haus von ausländischen Söldnern erschossen worden – angeblich unter Beteiligung haitianischer Elitepolizisten. Nicht, dass es davor rosig ausgesehen hätte – sei es die jahrzehntelange Ausbeutung durch Diktatoren, Epidemien oder Naturkatastrophen. Im Grunde hat sich Haiti bis heute nicht vom schweren Erdbeben im Jahr 2010 erholt, bei dem mindestens 220.000 Menschen umkamen.

Doch spätestens seit Moïses Tod ist von einer funktionsfähigen Demokratie nicht mehr zu sprechen. Wahlen gab es seit Jahren nicht mehr, selbst der am Montag zurückgetrete Regierungschef Henry besaß nie ein offizielles Mandat. Der perfekte Nährboden für die zuvor schon einflussreichen Gangs, die in der 20-jährigen Diktatur von François „Papa Doc“ Duvalier bis 1971 ihren Anfang nahmen und in den folgenden Jahrzehnten stetig an Einfluss gewannen – auch dank staatlicher Förderung als persönliche Milizen der Machthaber.

Wie weit ihre Macht reicht, zeigte sich nun in den vergangenen Wochen. Die jüngste Eskalation ist Ergebnis einer seltenen Allianz der beiden sonst rivalisierenden, in Port-au-Prince tonangebenden Gangs „G9“ und „Gpèp“. Deren Mitglieder stürmten Ende Februar Gefängnisse, rissen die Kontrolle über den Hafen an sich, setzten Geschäfte und Polizeistationen in Brand und umstellten sogar den internationalen Flughafen. Berichten zufolge kontrollieren sie inzwischen bis zu 80 Prozent der Stadt. 

Regierungschef Ariel Henry war zu diesem Zeitpunkt auf Auslandsreise in Kenia. Seit Montag ist klar: Henry wird so schnell nicht wieder zurückkehren. „Wenn er zurückgeht, bin ich sicher, dass er getötet wird“, so der ehemalige US-Beamte Foote. Laut dem US-Außenministerium soll er im US-Außengebiet Puerto Rico Zuflucht finden.

Wie steht es um die humanitäre Lage im Karibikstaat?

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Welt, sechs von zehn Haitianern leben unterhalb der Armutsgrenze. Am schlimmsten ist die Lage in der Hauptstadt. Um die 20 unterschiedlich starke Banden haben die Hafenmetropole unter sich aufgeteilt, wobei sie in ihren jeweiligen Machtbereichen nahezu absolute Kontrolle ausüben. Staatskräfte wagen sich gar nicht erst auf ihr Territorium. Morde, Vergewaltigungen und Entführungen stehen an der Tagesordnung – allein 2023 wurden nach UN-Angaben 4000 Menschen getötet und 3000 Menschen verschleppt. In einigen Bezirken ist das öffentliche Leben komplett zum Erliegen gekommen.

Der einflussreichste Bandenchef ist Jimmy Chérizier, Anführer der „G9“ – Spitzname „Barbecue“. Eigener Aussage nach rührt der von seiner Vorliebe für gegrilltes Hühnchen. Andere behaupten, der Name habe etwas mit Chériziers Gewohnheit zu tun, seine Feinde mitsamt deren Häusern in Brand zu setzen. „Das Volk von Haiti muss frei sein – und das werden wir mit unseren Waffen erreichen“, hatte der ehemalige Polizist vergangene Woche erklärt.

Der extremen Kriminalität begegnet die unterbesetzte Polizei wiederum mit teils extremer Gewalt – Tränengaseinsätze und Schusswechsel mit scharfer Munition am hellichten Tag sind nichts Ungewöhnliches. Tausende Polizisten sind mittlweile desertiert, Hunderttausende Haitianer vor der Gewalt und wegen der prekären Versorgungslage geflohen. Rund die Hälfte der Bürger hat nicht genug zu essen, Benzin, Strom und sauberes Wasser sind Mangelware. FS: Welche Länder nehmen die meisten Geflüchteten auf? 13.40 Uhr

Wie geht es jetzt weiter?

Die bittere Antwort: Das weiß derzeit niemand. Eine offizielle UN-Friedenstruppe steht nicht zur Debatte – auch weil bei die bislang letzte UN-Mission von 2004 bis 2017 krachend scheiterte.

Im Oktober 2023 hatten die Vereinten Nationen schließlich angekündigt, eine internationale Einsatztruppe unter kenianischer Führung unterstützen zu wollen. Die sollte nicht direkt die Banden zurückschlagen – würde bei Straßenschlachten in Port-au-Prince in erster Linie die Zivilbevölkerung leiden. Stattdessen sollte die Mission zunächst die wichtigsten Straßen in und aus der Hauptstadt unter Kontrolle bringen, um ein Mindestmaß Stabilität zu bringen, so der Plan. Bei dem ist es bisher allerdings auch geblieben, obwohl die Uhr tickt. Schließlich hat die UN die Mission für nur ein Jahr genehmigt. Deswegen war nunmehr Ex-Ministerpräsident Henry vergangene Woche nach Kenia gereist – womit sich der Kreis schließt.

Quellen: „Vox„; „Chatham House„; „Council on Foreign Relations„; „The Guardian„; CBC; BpB

Verwandte Beiträge