Inhaltlich sei das „Visions“ von Norah Jones keine Offenbarung, findet unser Autor. Trotzdem weckt das Album ein Aufbruchsgefühl in ihm. Passend zum Frühling.
Manchmal kann Pop so einfach sein – und so unglamourös. Norah Jones weiß das gut. Für ein Video zu ihrem Song „Staring at the Wall“ sitzt sie, schlicht geschminkt, in Jeans und offener Strickjacke in ihrem Studio, die verwuschelten Haare nur minimal gebändigt zu einem Pferdeschwanz. Sie hat einen Notizblock im Schoß und ein Mikro in der Hand, als nähme sie gleich an einem Karaoke-Wettstreit teil und scheuchte deswegen erst einmal die Kinder ins Bett. Der Song verzaubert trotzdem sofort, es ist einer ihrer besten. Anstelle eines Refrains heult sie zwei Worte: ah whooooooo!
Inhaltlich ist ihr aktuelles Album „Visions“ keine Offenbarung. Sie singt über Liebe und Verlangen, benutzt dafür Stanzen wie „Es ist Zeit, dich gehen zu lassen“ und „Ich denke die ganze Zeit an dich“ oder, ein Klassiker der Beziehungsgespräche: „Ich will nicht drüber reden, ich will nur tanzen.“ Dazwischen webt sie immer wieder Lautmalereien ein als Hooklines: La, la, la oder Hey, hey, hey. Trotzdem verströmt ihr neuntes Solowerk eine Leichtigkeit, ein Aufbruchsgefühl, das nicht nur im nahenden Frühling für Wohlgefühl sorgen sollte und für gute Verkäufe. Was etwas heißen will bei einer Frau, deren alte Hits wie „Come Away With Me“ oder „Don’t Know Why“ mehr als 50 Millionen Mal allein bei Youtube abgerufen wurden und bei Spotify an der halben Milliarde schrammen.
Auf „Visions“ herrscht nun unbekümmerte Spielfreude
Ihr Gespür für Melodien, für Arrangements, die klassisch klingen, sich bei Jazz, Soul und Country-Rock bedienen und doch modern wirken, wurde ihr in die Gene gelegt, auch wenn das ihr Können nicht kleinreden soll. Ihr Vater ist der indische Sitar-Virtuose Ravi Shankar, der in den 60er-Jahren ein gewisses Quartett aus Liverpool inspirierte.
Norah Jones: „Visions“
© Universal Music
Richtig kennengelernt hat Jones ihren Vater erst als Erwachsene. Ihre Sporen hatte sie sich da längst verdient, etwa durch eine musikalische Ausbildung an der Universität von Nordtexas, Alma Mater von Helden wie Don Henley und Roy Orbison. Bevor sie gleich mit ihrem Debütalbum vor 22 Jahren fünf Grammys gewann, davon mehr als 27 Millionen Exemplare verkaufte, jobbte sie, dem Klischee gehorchend, als Kellnerin.
Vier Jahre liegen zwischen ihrem eher schmerzensreichen, noch vor dem Lockdown veröffentlichten „Pick Me Up Off The Floor“ und dem neuen Album. Auf „Visions“ herrscht nun unbekümmerte Spielfreude. Akustik- und E-Gitarre, Klavier und Keyboards umgarnen sich, das Schlagzeug bleibt lässig im Hintergrund, Trompete und Saxofon funken dazwischen. Oder wie die inzwischen 44-Jährige es selbst zusammenfasst: „Manchmal macht es einfach so viel Spaß, Musik zu machen. Und ich habe das Gefühl, dass es bei den Aufnahmen für dieses Album viele solcher Momente gab.“ Ihr Mitstreiter diesmal ist Leon Michels, Produzent, Songschreiber und Multiinstrumentalist aus New York, der bereits mit den Black Keys auf Tour war und Jones schon bei ihrem Weihnachtsalbum zur Seite stand.
Noch mehr Lust auf Jones machen die bislang 32 Folgen ihres Podcasts „Playing Along“. Seit 2022 lädt sie dafür ihre Lieblinge ein zum gemeinsamen Musizieren. Dave Grohl von den Foo Fighters war schon da, Laufey, Jeff Tweedy und Rufus Wainwright. Zum Mitheulen schön: ah whoooooo!