Warum die europäischen Verbündeten ihrem deutschen Partner schon vor dem Taurus-Abhörskandal nicht mehr vertraut haben, erklärt der britische Sicherheitsexperte Edward Lucas.
1988, in den letzten Tagen des Kalten Krieges, war ich Auslandskorrespondent in Westberlin. Ein britischer Spion gewährte mir damals einen bemerkenswerten Einblick in die Arbeitsweise der deutschen Geheimdienste. „Wenn Sie wollen, dass der Kreml etwas ernst nimmt“, sagte er, „dann geben Sie es den Deutschen und sagen, es sei streng geheim.“ Am nächsten Morgen, versicherte er, läge es dann auf jedem Schreibtisch im Politbüro in Moskau.
Offensichtlich hat sich seitdem wenig geändert in Deutschland. Am vergangenen Freitag enthüllten die Russen, dass sie ein Gespräch des Chefs der Luftwaffe mit drei hochrangigen Kollegen abgehört hatten. Es ging um die höchst umstrittene Frage, ob Deutschland der Ukraine Taurus-Langstreckenraketen liefern sollte. Mit diesen Raketen könnten die Ukrainer Russlands Logistikdepots und Versorgungslinien angreifen – etwa die Brücke über die Straße von Kertsch, die die Krim mit Russland verbindet.
Das Taurus-Leak schädigt die Sicherheit von Alliiertentruppen
In jedem Land, das etwas auf sich hält, würde das Militär ein derart streng vertrauliches Gespräch mit speziellen Telefonhörern über verschlüsselte Leitungen führen. Es würde darauf bestehen, dass sich alle Gesprächsteilnehmer nur von sicheren Orten aus zuschalten. Die unbedarften Deutschen indes verwendeten Webex, ein Webkonferenzsystem, das vergleichbar ist mit Zoom. Einer der Teilnehmer wählte sich aus Singapur ein – mit einem ganz normalen Telefon. Wie genau die russischen Zuhörer das Gespräch belauschen konnten, wird derzeit noch ermittelt, doch allzu schwer dürfte es nicht gewesen sein.
In dem Telefonat wurde nichts entschieden. Die Lieferung der Raketen wird weiterhin von Bundeskanzler Olaf Scholz blockiert. Doch vom Kreml veröffentlichte 38-minütige Gesprächsaufzeichnung enthüllte, dass Scholz die deutsche Öffentlichkeit belogen hatte: In dem angezapften Gespräch sagten die hochrangigen Militärs, die Raketen könnten von gut ausgebildeten Ukrainern gezielt programmiert werden. Scholz hatte behauptet, dazu seien nur deutsche Soldaten in der Lage, die man dafür in der Ukraine stationieren müsse – was in Scholz‘ Augen eine unzumutbare Provokation Russlands darstelle.
Der größte Schaden allerdings wurde nicht dem eigenen Ruf, sondern der Sicherheit von Deutschlands Alliierten zugefügt. „Ich weiß, wie die Briten ihre Waffen liefern“, sagte der Chef der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, in dem Gespräch. Er meinte damit die Storm-Shadow-Raketen, die wir Briten der Ukraine gespendet hatten. „Sie transportieren sie immer in gepanzerten Ridgeback-Fahrzeugen. Und sie haben dafür mehrere Leute am Boden.“
Deutschland ist eine Last im europäischen Sicherheitsverbund
Das Besprechen von Militärgeheimnissen über eine ungesicherte Telefonleitung ist ein Kündigungsgrund. Doch man kann nicht ein ganzes Land entlassen. Die westlichen Verbündeten wurden gerade mit der Realität konfrontiert, dass unser größter und reichster europäischer Partner eine entsetzliche Belastung darstellt. Im britischen Regierungssitz 10 Downing Street bezeichnete man das abgehörte Gespräch als „eine sehr ernste Angelegenheit“, wollte sich aber nicht dazu äußern, ob es Pläne zur Einschränkung des Austauschs von Geheimdienstinformationen mit Berlin gibt.
Niemand würde es der britischen Regierung verdenken, eine solche Reaktion in Erwägung zu ziehen – schließlich ist Scholz auch aus anderen Gründen in Ungnade gefallen. Erst am Montag erklärte er öffentlich, dass britische Soldaten in der Ukraine vor Ort sind und den Einsatz unserer Storm-Shadow-Raketen unterstützen.
Für Moskau dürfte das keine Überraschung gewesen sein. Dennoch ist es peinlich, dass der Staatschef eines vermeintlich vertrauenswürdigen Partners ein Militärgeheimnis ausplaudert. Die Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im britischen Unterhaus, Alicia Kearns, hielt sich nicht zurück. Sie bezeichnete Scholz‘ Fauxpas als „falsch, unverantwortlich und einen Schlag ins Gesicht.“ Aus Sicht seiner westlichen Verbündeten ist Deutschland nun ein mehr als nutzloser Partner. Das ist die traurige Wahrheit.
Ahnungslose, durchlässige deutsche Geheimdienste
Und kein Bereich des deutschen Sicherheitsapparates ist in einem desolateren Zustand als seine ahnungslosen, durchlässigen Geheimdienste. Im Dezember standen der nur als „Carsten L.“ bekannte hohe Beamte des deutschen Auslandsgeheimdienstes und sein mutmaßlicher Komplize Arthur E. wegen Spionage für Russland vor Gericht. Die Verhaftung der beiden war nicht etwa dank deutscher Sorgfalt und Gründlichkeit gelungen, sondern erfolgte auf einen Hinweis des FBI.
Als „arrogant, inkompetent, bürokratisch, nutzlos“ beschrieb der ehemalige CIA-Offizier John Sipher deutsche Spione einmal. Für die Ukrainer ist es alles andere als lustig, dass Scholz bei Waffenlieferungen zaudert. Die großen Hoffnungen auf die „Zeitenwende“, die Scholz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 ankündigte, sind merklich kleiner geworden.
Deutschlands kümmerliche Armee ist nach wie vor unzureichend ausgerüstet, schlecht geführt und knapp bei Kasse. Berlins Abneigung gegen ein hartes Sicherheitsdenken rührt teils aus der Erinnerung an die beiden katastrophalen militärischen Niederlagen im letzten Jahrhundert und teils aus der Zeit des Kalten Krieges, als Deutschland ein potenzieller nuklearer Kriegsschauplatz war.
Deutschland spionierte in Estland gegen die USA
Diese Vergangenheit schürt Anti-Amerikanismus und Antimilitarismus. „Selbst der schlechteste Frieden ist besser als der beste Krieg“, erklärte ein führender deutscher Intellektueller, als die Ukraine ihren Kampf ums Überleben begann. Dass es sich lohnen könnte, für die Freiheit zu kämpfen, zählt in Deutschland offenbar nicht.
Diese Einstellung hat auch viel mit Gier zu tun. Geradezu zwanghaft verfolgte Deutschland lukrative Geschäfte mit Russland und China. Von den Sorgen ihrer östlichen Nachbarn Polen, Estland, Lettland und Litauen wollten die Deutschen hingegen nichts hören. Dabei waren es gerade diese Länder, deren Schicksal der Hitler-Stalin-Pakt 1939 besiegelte. Deutschland schuldet ihnen historisch viel, doch anstatt sich für ihre Sicherheit einzusetzen, blockierte Berlin jahrelang die Nato-Verteidigungspläne für diese Staaten.
Schlimmer noch: Deutschlands Geheimagenten stahlen ihre Geheimnisse. Wie ich in meinem Buch „Deception“ – übersetzt: Täuschung – aufgedeckt habe, warb der BND in Estland den hochrangigen Verteidigungsbeamten Herman Simm an, den US-Einfluss dort im Auge zu behalten. Was die Deutschen nicht wussten: Simm spionierte auch für die Russen. Der Schaden war kolossal.
Auf Warnungen reagierte Deutschland herablassend
Ich bin kein Deutschland-Hasser. Ich habe dort jahrelang gelebt und gearbeitet. Ich habe versucht, die Deutschen auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die von einem immer vorhandenen und jetzt erstarkenden russischen Imperialismus ausgeht. Die Reaktion der Deutschen war herablassender Unglaube. Währenddessen trieben russische Spione, Gangster und Betrüger ihr böses Spiel direkt unter der Nase der von Bürokratie gefesselten deutschen Polizei und der Sicherheitsdienste.
Fünf Fragen Taurus-Affäre13:19
Und das ist ein weiteres Erbe der deutschen Vergangenheit: Der Widerstand gegen staatliche Überwachung. Hitlers Gestapo und später die Stasi in Ostdeutschland haben tiefe Spuren hinterlassen. Strenge Datenschutzgesetze behindern die deutschen Behörden beim Durchführen selbst einfachster Sicherheitskontrollen.
Wohin das führt, demonstrierte neulich der Journalist Michael Colborne, der nur 30 Minuten brauchte, um eine flüchige Linksterroristin ausfindig zu machen. Die 55-jährige Daniela Klette gehörte zur mörderischen Baader-Meinhof-Bande und hatte jahrelang unter falscher Identität in Berlin gelebt, obwohl sie auf der deutschen Fahndungsliste stand. Eine einfache Internet-Fotosuche führte zu ihrer hastigen Verhaftung durch die bis dahin ahnungslose deutsche Polizei.
Wegen seiner Politik ist Deutschland das schwächste Glied in der europäischen Verteidigung. Man stelle sich vor, ein durch den Erfolg in der Ukraine ermuntertes Russland würde die Entschlossenheit der Nato in Polen oder den baltischen Staaten auf die Probe stellen. Diese Staaten würden mit hartnäckigem und entschlossenem Widerstand reagieren. Wir Briten und andere Verbündete werden ihnen zur Seite stehen wollen. Was, wenn Deutschland dann „Diplomaten statt Granaten“ schreit und fordert, die Krise müsse durch Gespräche und nicht durch Krieg gelöst werden?
Wegen seiner Lage in der nordeuropäischen Tiefebene wäre Deutschland mit seinen Nachschublinien unerlässlich, um Hilfsgüter und Munition an die Front zu bringen. Doch Berlin könnte sich gegen eine direkte Beteiligung an einem militärischen Konflikt sträuben und seine Grenzen gegen Lieferungen der Alliierten sperren.
Ein Albtraum – aber keine Fiktion. Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sperrte Deutschland seinen Luftraum für Verstärkungsflüge. Die unangenehme Wahrheit ist, dass Deutschland schläft, während Europa brennt. Wir im Rest Europas haben deshalb schlaflose Nächte.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der britischen „Daily Mail“.