Zwangs-Verhütung: Gegen ihren Willen wurden Tausenden Grönländerinnen Spiralen eingesetzt. Einige klagen nun gegen Dänemark

In den 1960er und 1970er Jahren wurden auf Grönland zahlreichen Frauen Spiralen zur Verhütung eingesetzt – unfreiwillig. 143 Frauen fordern nun vom Staat Dänemark eine Millionen-Entschädigung.

Es könnte einer der größten Menschenrechtsprozesse in der Geschichte Dänemarks werden. 143 Frauen aus Grönland verklagen den skandinavischen Staat. Der Grund: Dänische Ärzte haben ihnen in den 1960er und 1970er Jahren Spiralen zur Empfängnisverhütung eingesetzt. Gegen ihren Willen. Und die dänische Regierung hält bisher die Füße still.

Ursprünglich waren es 67 Frauen, die im Oktober eine Entschädigung von 300.000 dänischen Kronen pro Person forderten, was etwa 40.000 Euro entspricht. Jetzt hat sich die Zahl der Klägerinnen fast verdoppelt. Die Gesamtsumme beläuft sich nun auf 43 Millionen Kronen, also rund 5,7 Millionen Euro, wie der grönländische Rundfunk KNR am Montag berichtete. Die Frauen möchten nicht länger auf die Ergebnisse einer offiziellen Untersuchung warten, die erst 2025 vom Staat vorgelegt werden soll.PAID STERN 2019_49 Auf dünnem Eis 11.11

4500 Frauen wurde zwischen 1966 und 1970 die Spirale eingesetzt

„Die Ältesten von uns sind mehr als 80 Jahre alt, wir können nicht länger warten. Solange wir noch leben, wollen wir unsere Selbstachtung und den Respekt vor unserer Gebärmutter zurückgewinnen. Keine Regierung sollte entscheiden, ob wir Kinder haben sollen oder nicht“, sagte die Sprecherin Naja Lyberth zu KNR. Lyberth bekam im Alter von 14 Jahren von einem dänischen Arzt eine Spirale eingesetzt und war eine der ersten, die öffentlich darüber sprach.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk Danmarks Radio (DR) deckte 2022 in einem Podcast mit dem Titel „Die Spiralkampagne“ die Praxis in Grönland, einem autonomen Gebiet Dänemarks, auf. Journalisten berichteten darin, wie zwischen 1966 und 1975 Tausende Mädchen und Frauen ohne ihre Zustimmung mit dem Verhütungsmittel behandelt wurden. Einige von ihnen waren erst 13 Jahre alt. Die dänischen Behörden hatten das Ziel, das Bevölkerungswachstum in Grönland zu reduzieren.

Laut DR wurden zwischen 1966 und 1970 insgesamt 4500 Intrauterinpessare (IUP) eingesetzt. Zu dieser Zeit gab es etwa 9000 fruchtbare Frauen in Grönland. Mehrere Frauen berichteten, dass ihnen die Spirale aufgezwungen wurde, was sie als Übergriff empfanden. Viele Frauen hätten als Reaktion starke Schmerzen oder Traumata erlitten, so KNR weiter. Seit Juni 2022 haben die Opfer die Möglichkeit, sich kostenlos psychologisch behandeln zu lassen.Verhütungsmittel im Check   20.30

Erzwungene Verhütung auf Grönland: Menschenrechtsverletzungen „historischen Ausmaßes“

Der Anwalt Mads Pramming sieht in dem Vorgehen Dänemarks gegenüber den grönländischen Frauen eine klare Menschenrechtsverletzung. Da der Staat sich nicht zu Entschädigungszahlungen äußert, sehen sie sich gezwungen, vor Gericht zu gehen, sagte er KNR. Pramming sieht unter anderem das Folterverbot, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das Diskriminierungsverbot verletzt.

Obwohl Pramming derzeit Gespräche mit dem dänischen Generalstaatsanwalt führe, gehe er davon aus, dass der Staat erst nach Abschluss der laufenden offiziellen Untersuchung auf die Entschädigungsforderung reagieren werde.

Marya Akthar, Leiterin der Rechtsabteilung am Institut für Menschenrechte in Kopenhagen, sieht mit der Klage einen der größten Menschenrechtsprozesse in der Geschichte Dänemarks auf das Land zukommen. Sie spricht von Menschenrechtsverletzungen „historischen Ausmaßes“, wie sie KNR sagte – sowohl in Bezug auf die Anzahl potenzieller Opfer als auch auf die Systematik der mutmaßlichen Verstöße und das Alter der Opfer, von denen einige noch Kinder waren.Verschickte Kinder Grönland 6.20

Kritik an staatlicher Untersuchung Dänemarks

Im Mai 2023 haben die dänische Regierung und die Naalakkersuisut, die Regierung Grönlands, eine gemeinsame Untersuchung des Spiralen-Skandals eingeleitet. Wissenschaftler sollen die Vorwürfe untersuchen und klären, welche Verhütungspraktiken Ärzte in Grönland bis Anfang der 1990er Jahre angewandt haben. Nach 1991 übernahmen die Grönländer das Gesundheitssystem von Dänemark. Dennoch sollen auch danach Frauen gegen ihren Willen Verhütungsmittel erhalten haben.

Kritiker halten die Untersuchungen jedoch für unzureichend. Sie werden sich nicht dazu äußern, ob Menschenrechte verletzt wurden. Anwalt Pramming hält es daher nicht für sinnvoll, auf die Ergebnisse der Untersuchung zu warten. „Ich erwarte eine klare Antwort, ob sie zahlen wollen oder nicht“, sagte er in Richtung Kopenhagen. Einen Vergleich wolle er nicht. „Wir haben die Beweise, warum sollten wir in einem Fall, der so lange zurückliegt, warten?“

Dänemarks Innen- und Gesundheitsministerin Sophie Løhde sagte, ihr Ministerium erwarte den Eingang und die Verlesung der Klageschrift „mit Spannung“.

Auch Naja Lyberth sieht die Klage als einzige Möglichkeit der Frauen, ihre Würde wiederzuerlangen. „Es bedeutet, dass meine Mitschwestern und ich unsere Gleichberechtigung und unsere verletzte Seele wiederfinden. Wir stecken da zusammen drin, und das ist ein sehr großer Heilungsprozess für uns.“ 

Quellen: KNR, DR, TV2, „Berlingske“, Universität Grönlands, Regierung Dänemarks, Naalakkersuisut, Gesundheitsministerium Dänemark, Verein der Gebärmütter Dänemarks

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