Studie: Übergriff am Lagerfeuer: Wie Kinder bei den Pfadfindern jahrelang missbraucht wurden

Wer zu den Pfadfindern geht, freut sich auf Ausflüge in die Natur und eine enge Gemeinschaft. Doch eine neue Studie zeigt: Immer wieder haben Leitungspersonen ihre Funktion ausgenutzt.

Es war ein Versagen auf allen Ebenen: Jahrelang wurden Kinder und Jugendliche im Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) sexuell missbraucht. Eine von ihnen ist Sophie Ruhlig. Sie war elf, als die Übergriffe durch ihren Pfadfinderleiter begannen. „Für mich ist es erschreckend, in welcher Vielfalt sexueller Missbrauch in diesen Gruppen bei Pfadfindern möglich war“, sagt sie bei der Pressekonferenz in München. „Ich dachte immer, ich bin ein Einzelschicksal.“

Der Täter habe ihr immer wieder gesagt: „Sprich nicht darüber, dir glaubt sowieso keiner“, sagt Ruhlig. Außerdem habe sie nicht ausgeschlossen werden wollen. Die Pfadfinder waren ihre Welt. „Ich wollte dazugehören.“ Ruhlig möchte andere Betroffene – wobei sie betont, dass sie lieber als „Erfahrene“ bezeichnet werden will – dazu ermutigen, über die Übergriffe, die sie erlebt haben, zu berichten. 

Sexueller Missbrauch bei Pfadfindern: Große Dunkelziffer

„Wir schätzen, dass es ein großes Dunkelfeld gibt“, sagt die Geschäftsführerin des IPP Helga Dill. „Gründe dafür sind überdauernde Loyalitäten gegenüber der eigenen Pfadfindergruppe. Also nicht Nestbeschmutzer sein wollen, die Aufrechterhaltung eines idealisierten Bildes der Pfadfinder. Dazu der Schutz von Täterinnen und Tätern und Mitwissenden oder auch Angst vor den Tätern.“ Es habe auch Torpedierungen bei der Aufarbeitung gegeben, erklärt Dill. Manche wollen den Verband nicht dabei unterstützen, aufzuklären. 

Das Ausmaß der Übergriffe zeigt eine Studie, die Fälle von sexualisierter Gewalt zwischen 1976 und 2006 untersucht, über 100 Betroffene wurden dazu befragt. Die Menschen, die sich für die Studie gemeldet haben, waren Betroffene, Zeitzeugen oder sogenannte Schlüsselpersonen. Der Großteil von ihnen kommt aus Baden-Württemberg, Berlin, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Rheinland Pfalz. Das bedeutet jedoch nicht, dass es in den übrigen Bundesländern keine Fälle von sexualisierter Gewalt beim BdP gegeben hat. 

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Wer waren die Täter?

Schaut man sich die Täter an, habe man zwei exemplarische Prototypen, sagt die Geschäftsführerin: „Zum einen den älteren erwachsenen Pfadfinder, der sich im Verband unentbehrlich gemacht hat und überall dabei ist. Zum anderen den jugendlichen Erwachsenen, der seine Macht als Leitungsperson benutzt und Jüngere sexuell ausbeutet.“ 

In der Studie wurden auch die riskanten Orte identifiziert, an denen sexualisierte Gewalt größtenteils stattfand: „Im Lager, im eigenen Stamm, auf Reisen, bei Stammestreffen, bei Treffen mit anderen Stämmen oder Bünden, aber auch in privaten Situationen, also beim Täter zu Hause, beim Schwimmen, im Auto, wenn die Kinder abends nach Hause gebracht wurden oder auch im Rahmen von Spielen und Ritualen“, erläutert Dill. 

Eltern wussten von den sexuellen Übergriffen

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Das habe unter anderem etwas mit den Strukturen zu tun, die dort vorherrschten, erklärt der Psychologe Peter Caspari vom IPP. „Es sind Eltern von ihren Kindern informiert worden“, sagt er. „Das hatte aber nicht zur Konsequenz, dass die sexualisierte Gewalt beendet worden ist.“ Die Eltern haben ihre Kinder aus dem Verband rausgenommen, erklärt der Psychologe. 

Andere Kinder in den Stämmen wurden aber deswegen nicht geschützt. „Wir haben das Phänomen beobachtet, dass sich Jungen eher an ihre Eltern gewandt haben, während wir einige sehr beeindruckende Beispiele haben, wie Mädchen gemeinsam versucht haben, sich gegen sexualisierte Gewalt in ihren jeweiligen Gruppen zur Wehr zu setzen, was teilweise von Erfolg gekrönt war, aber teilweise auch nichts an der Tatsache geändert hat“, sagt er. Warum den Vorwürfen nicht weiter nachgegangen wurde, erklärt Caspari mit Loyalität und der Angst der Kinder nicht mehr dazuzugehören. 

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Zudem hat der Verband bei der Aufklärung auch häufig die Augen verschlossen. „Der Umgang mit Betroffenen ist von Ignoranz geprägt worden im Sinne von: aus den Augen, aus dem Sinn“, sagt Caspari. „Betroffene wurden ignoriert und alleingelassen.“

Beim BdP wird es Anlaufstellen geben, die Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, unterstützen. Peter Caspari betonte bei der Pressekonferenz, dass die Kooperation zwischen dem IPP und dem BdP sehr gut gewesen sei und der BdP ein uneingeschränktes Interesse daran habe, alle Fragen zu den Vorfällen der letzten Jahrzehnte zu klären.

„Es wurde viel versäumt, es wurde viel weggeguckt“

„Wir haben Fehler gemacht“, sagt Annika Schulz, Vertreterin des Bundesvorstands des BdP. „Es wurde viel versäumt, es wurde viel weggeguckt.“ Nun wollen sie die Betroffenen unterstützen, indem sie nicht mehr wegschauen und ihnen dabei helfen, für ihr Recht einzustehen, gegebenenfalls auch mit finanzieller Unterstützung und strafrechtlicher Verfolgung. Zudem wollen sie mehr Aufklärungsarbeit betreiben, die Studienergebnisse im BdP verbreiten und Eltern mit ins Boot holen. 

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