Rare Disease Day: „Sind es diesen Menschen schuldig, dass wir uns um sie kümmern“: Experte über seltene Krankheiten

Heute, am 29. Februar, ist „Tag der seltenen Krankheiten“ – und das Thema, das damit adressiert wird, vielleicht so wichtig wie nie. Professor Jürgen Schäfer, auch „Deutschlands Dr. House“ genannt, erklärt im Gespräch, wie uns der Klimawandel schon jetzt neue, kuriose Befunde beschert.

Herr Professor Schäfer, Sie befassen sich seit fast 40 Jahren mit rätselhaften und seltenen Krankheiten. Kann das, was Ihnen da begegnet, Sie überhaupt noch überraschen?
Seltene Erkrankungen sind häufiger als man denkt. Eine Krankheit gilt als selten, wenn sie nicht häufiger als fünfmal bei 10.000 Einwohnern vorkommt. Da es allerdings 6.000 bis 8.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen gibt, ist die Summe derjenigen, die an einer solchen leiden, doch recht groß. Allein in Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen betroffen. Gäbe es eine „Rare Disease Partei“, dann käme diese mit mehr als fünf Prozent in den Bundestag! Und ja, Medizin ist für mich noch immer spannend wie ein Krimi und voller Überraschungen. Vor nicht allzu langer Zeit konnten wir beispielsweise in unserem Labor gemeinsam mit einem befreundeten Tierarzt einen bisher in Deutschland extrem seltenen Wurm namens Dirofilaria repens nachweisen. Und zwar bei einem jungen Patienten – in einer Gewebeprobe eines unklaren Hauttumors. Das hat nicht nur uns sehr überrascht. 

Warum?
Eigentlich kommt dieser Fadenwurm nur als Parasit bei Hunden in wärmeren Ländern vor. Es ist faszinierend und erschreckend zugleich, dass offenbar durch den Klimawandel der Entwicklungsprozess der Dirofilaria-Larve nunmehr auch hierzulande in einer banalen Rheinschnake stattfinden kann. Die Entwicklung der Larve in einer Schnake hängt nämlich stark von der Außentemperatur ab. Bei 22 Grad Celsius dauert das etwa 16 bis 20 Tage. Da sind die Schnaken als Wirtstiere aber häufig schon lange tot oder wurden von Vögeln gefressen. Bei einer Temperatur von 28 bis 30 Grad geht es doppelt so schnell, und die Larve braucht für die Entwicklung in der Schnake nur noch acht bis zehn Tage. Dadurch hat dieser Wurm an zunehmend wärmeren Sommertagen eine realistische Chance, sich in Deutschland auszubreiten.

Professor Dr. Jürgen Schäfer, geboren 1956 in Karlsruhe, leitet das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg.
© H. Grassmann / Philipps-Universität Marburg

Wie macht sich ein Befall im Menschen bemerkbar?
Letztendlich ist der Mensch für diesen Hunde-Parasiten ein absoluter Fehlwirt. Wird ein Mensch von einer infizierten Mücke gestochen, dann nisten sich die Larven des Wurms meist im Hautgewebe ein und lösen dort eine schmerzhafte Schwellung aus. Die Chirurgen entfernten bei unserem Patienten diesen Herd, und seine überaus engagierte Hausärztin bat uns herauszufinden, um was es sich hier genau handelte. Über Gen-Analysen aus der Gewebeprobe stießen wir dann auf die Wurm-DNA von Dirofilaria repens. Durch die Operation wurde der Wurm entfernt, der Patient muss nicht mit Folgeschäden rechnen.

Und doch ist jeder Fall ist so exotisch. Wie sieht Alltagsarbeit für Sie und Ihr Team aus?
Wissenschaftlich sind wir besonders im Bereich des Lipidstoffwechsels engagiert, weswegen wir Patienten betreuen, die seltene Fettstoffwechselerkrankungen haben. Innerhalb unserer Universitätsklinik werden aber auch – wie bei allen Universitätskliniken – eine Vielzahl weiterer seltener Erkrankungen behandelt. Dazu gehören seltene Tumore, die aus hormonbildenden Zellen entstehen, blasenbildende Hauterkrankungen, angeborene Fehlbildungen der Blut- und Lymphgefäße, seltene Leukämieformen, bösartige Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse oder Fiebersyndrome. Da wir vorwiegend auf erwachsene Patienten spezialisiert sind, sehen wir immer wieder auch Menschen, die keine wirklich seltene Erkrankung im eigentlichen Sinn haben, sondern bei denen sich eine Vergiftung, eine Infektion mit Parasiten oder „nur“ eine seltene Medikamentennebenwirkung zeigt.

Seltene Nebenwirkung?
Einmal ging es um ein Verhütungsmittel: Wir hatten den Fall, bei dem eine Patientin Depressionen entwickelte, nachdem ihr mehrere Wochen zuvor eine hormonfreisetzende Spirale eingesetzt worden war. Nach Entfernen der Spirale waren die jahrelang bestehenden Depressionen weg. Wir konnten einen direkten Zusammenhang nachweisen. Das Entfernen der Spirale ersetzte jahrelange Couch-Sitzungen. Bei einem anderen Patienten kam es zu einer Lähmung durch einen Mangel an Vitamin B12, verursacht von einem Mittel gegen Diabetes. Gerade weil Diabetiker häufig an Nervenerkrankungen leiden, sollte hier vermehrt auf Vitaminmangelzustände geachtet werden.

Die Wartezeiten am von Ihnen geleiteten Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen an der Universitätsklinik Marburg waren schon immer sehr lang. Hat sich die Situation für Patienten inzwischen verbessert?
Mittlerweile gibt es an jeder deutschen Universitätsklinik ein Zentrum für seltene Erkrankungen – mit exzellenten Experten und Expertinnen, die unseren in Marburg in nichts nachstehen. Insofern sehe ich durchaus Verbesserungen. Dennoch erreichen uns am Universitätsklinikum Marburg noch immer etwa 1000 Anfragen pro Jahr. Zum Glück können wir einen Teil der Hilfesuchenden an andere, wohnortnahe Zentren weiterleiten. Um das nächstgelegene Zentrum zu finden, ist der SE-Atlas sehr hilfreich. Nützlich und verdienstvoll ist auch die Arbeit von Patientenverbänden wie ACHSE e.V., oder von Fördervereinen wie FusE Hessen, die bereits viel für Betroffene erreicht haben.  

Also alles gut?
Nein, denn die Bearbeitung der Fälle der anfragenden Ärzte und Ärztinnen bleibt zeitintensiv. Deswegen ist die Wartezeit für Hilfesuchende noch immer sehr lang. Viele Betroffene, aber auch wir selbst empfinden das als sehr belastend. Wichtig ist für uns, dass die Anfragen von den betreuenden Hausärzten und Hausärztinnen oder Kliniken kommen, so dass wir sicher sein können, dass die von uns erarbeiteten Empfehlungen auch umgesetzt werden. Dies umso mehr, da wir derzeit keine spezielle Sprechstunde für Patienten direkt anbieten, sondern sämtliche Befunde im Sinne eines Zweitmeinungsverfahrens sichten und darauf aufbauend weitere Schritte empfehlen. Hierfür ist die enge Zusammenarbeit mit den Hausärzten wichtig.

Das Schicksal der Menschen mit seltenen Erkrankungen wird zunehmend gesellschaftlich wahrgenommen und von den politisch Verantwortlichen als wichtige Aufgabe für unser Gesundheitssystem erkannt. 

Wie steht es um die personelle und finanzielle Ausstattung Ihrer Abteilung?
Bisher wurde unser kleines Zentrum durch das Marburger Universitätsklinikum voll und ganz „querfinanziert“, wofür wir sehr dankbar sind. In den vergangenen Monaten hat sich aber einiges bewegt: Bundesweit wurden die Zentren für seltene Erkrankungen vom gemeinsamen Bundesausschuss als wichtige Versorgungseinrichtung anerkannt und von den Ländern in den Rahmenplan aufgenommen. Nun können erstmals die Krankenhäuser mit den Kostenträgern über eine Finanzierung sprechen, die so bislang nicht stattfand. Extrem hilfreich ist für uns in Marburg auch die Unterstützung, die wir durch unsere IT-Abteilung, durch unser Institut für künstliche Intelligenz sowie durch die digitale Medizin erhalten. Denn ohne IT-Unterstützung werden wir all unsere Anfragen perspektivisch nie abarbeiten können. Und was uns auch sehr hilft: Das Schicksal der Menschen mit seltenen Erkrankungen wird zunehmend gesellschaftlich wahrgenommen und von den politisch Verantwortlichen als wichtige Aufgabe für unser Gesundheitssystem erkannt. 

Unterstützt Sie die Politik?
Erste Ansätze gibt es, zum Glück. So wurde zum Beispiel in Hessen die „Stärkung der Zentren für unerkannte und seltene Erkrankungen“ bei der neuen Landesregierung in deren Koalitionsvertrag aufgenommen. Hier hoffen wir, dass die Ziele in den kommenden Monaten auch umgesetzt werden. Und wir hoffen, dass andere Landesregierungen in Deutschland dem Beispiel der hessischen Politikerinnen und Politiker folgen werden und ihre Zentren gleichfalls stärken. Denn damit helfen wir vielen Patienten mit einer seltenen Erkrankung, die derzeit in unserem eigentlich sehr guten Gesundheitssystem durch die Maschen fallen. Wir sind es diesen Menschen und auch deren Angehörigen schuldig, dass wir uns vermehrt um sie kümmern – und das nicht nur an einem 29. Februar.

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