Künstliche Befruchtung: In Alabama gelten Embryos jetzt als Babys. Zehn Fragen und Antworten zum umstrittenen Urteil

Embryos aus künstlicher Befruchtung, so hat der Oberste Gerichtshof von Alabama entschieden, sollen wie lebende Babys behandelt werden. Ein Urteil mit weitreichenden Folgen. Inwieweit war die Entscheidung religiös motiviert? Und welche Rolle spielt Donald Trump? Der stern beantwortet die wichtigsten Fragen.

Das Recht auf Abtreibungen ist in den USA schon länger umkämpft. Nun rückt die künstliche Befruchtung (IVF) ins Zentrum des politischen und ideologischen Streits. Der Oberste Gerichtshof von Alabama urteilte, dass auch im Reagenzglas gezeugte und eingefrorene Embryonen als Babys anzusehen sind. 

Drei Paare hatten gegen eine Reproduktionsklinik geklagt, nachdem dort wohl ein Patient ihre Embryos aus Versehen von einem Tisch auf den Boden geworfen und zerstört hatte. In der Klage ging es um Schadenersatz. Die Kläger verwiesen auf ein Gesetz über den unrechtmäßigen Tod von Minderjährigen aus dem Jahr 1872. 

Augenzeuge Kenneth Smith Hinrichtung18.10

Zweimal hatten untergeordnete Gerichte die Klage abgewiesen. Eines urteilte, dass die eingefrorenen Embryos nicht als „Personen“ oder „Kinder“ betrachtet werden können. Jetzt folgte die Kehrtwende.

1. Wie wurde die Entscheidung im Urteil begründet?

Mit sieben zu zwei Stimmen hob der Oberste Gerichtshof von Alabama die Urteile der untergeordneten Gerichte auf. Richter Jay Mitchell zitierte in der Begründung wiederholt die Bibel. Und erklärte, das mehr als 150 Jahre alte Gesetz über den unrechtmäßigen Tod von Minderjährigen sei auf „alle Kinder ohne Einschränkung“ anzuwenden. Außerdem zog er eine direkte Linie zum nahezu kompletten Verbot von Abtreibungen in Alabama. Vor fast zwei Jahren hatte der Oberste Gerichtshof der USA das seit 1973 bestehende Urteil „Roe v. Wade“ gekippt – und damit das landesweit bestehende Recht auf Abtreibungen abgeschafft. Nun kann jeder Bundesstaat selbst entscheiden, wie er damit umgeht. 

2. Was passierte nach dem Urteil in Alabama?

Der Schock über das Urteil war natürlich groß. Es hatte weitreichende Auswirkungen auf Paare, die versuchen, per In-​Vitro-Fertilisation (IVF) schwanger zu werden. So stoppte die Universität von Alabama sofort ihr Programm für künstliche Befruchtungen — aus Sorge, dass Ärzte und Patientinnen sich nun strafbar machen könnten. „Wir sind traurig, dass dies den Versuch unserer Patientinnen, durch IVF ein Baby zu bekommen, beeinträchtigen wird“, teilte die Universität mit. Die Entscheidung des Gerichts, „dass ein eingefrorener Embryo ein menschliches Wesen ist“, müsse evaluiert werden. Man habe zu prüfen, ob „unsere Patientinnen und unsere Ärzte“ für die standardmäßige Anwendung von IVF-Behandlungen „strafrechtlich verfolgt werden könnten“. Weitere Kliniken sind der Universität bereits gefolgt.

3. Welche konkreten Probleme verursacht das Urteil?
 

Bei einer IVF werden in der Regel so viele Eier wie möglich von einer Frau entnommen. Diese werden dann befruchtet und die Embryos eingefroren. Meistens wird nur ein Embryo pro Durchgang wieder eingepflanzt, um die Chancen für eine Schwangerschaft möglichst hochzuhalten. 

4. Dürfen Embryonen aus einer künstlichen Befruchtung überhaupt noch eingefroren werden?

Schon jetzt ist unklar, ob Embryonen überhaupt zur Lagerung eingefroren werden können. Darf man Menschen einfrieren? Und was passiert, wenn ein Paar erfolgreich schwanger geworden ist, aber noch Embryos eingefroren sind? Das Urteil gibt auf diese Fragen keine Antwort. Reproduktions-Mediziner sind in ihrer Meinung eindeutig: Das Urteil war eine komplett unwissenschaftliche und unmedizinische Entscheidung. 

5. Inwieweit war das eine politische Entscheidung?
 

Der Verdacht liegt nahe, dass im Wahljahr eine solche Entscheidung auch politisch motiviert ist, um den wachsenden extrem religiösen Anteil der Bevölkerung an die Republikaner und Donald Trump zu binden. Die sogenannten Evangelikalen haben schon bei den letzten beiden Wahlen eine wichtige Rolle gespielt, das wird auch diesmal so sein. Darum war es auch keine Überraschung, dass Nikky Haley, die sich als Präsidentschaftskandidatin der US-Republikaner bewirbt, das Urteil befürwortet. „Für mich sind Embryonen Babys“, sagte Haley in einem Interview mit NBC News. „Wenn man von einem Embryo spricht, ist das für mich Leben.“ 

6. Wer hat die Entscheidung vorangetrieben?

Offenbar der Oberste Richter Tom Parker. In seinen 20 Jahren als Richter hat er in seinen Begründungen schon öfter die Bibel zitiert und religiöse Ansichten geäußert. Er half auch bei der Vorbereitung der Klage, die für das Ende des Roe v. Wade-Urteils sorgte. Er beschwerte sich zudem öffentlich darüber, dass andere Richter in ihren Urteilen Religion zu wenig einbeziehen würden. Auch unterstützt er das „Seven Mountain Mandate“, das gläubige Christen unter dem Stichwort „Christian Nationalism“ dazu aufruft, die Regierung zu führen und das US-amerikanische Leben zu steuern. Paula White, Donald Trumps spirituelle Beraterin, ist eine Anhängerin der Bewegung, ebenso Tom Parker. 

Thomas Hitzlsperger Interview Bilanz zehn Jahre Outing 8.05

7. Wie begründet der Richter die Entscheidung im Detail?

Tom Parker argumentiert grundsätzlich, dass alle Gesetze in Alabama auf der christlichen Religion basieren. Denn Gott habe alle Menschen „als sein Abbild“ geschaffen. Im Fall der In-​Vitro-Fertilisation schreibt er, Leben beginne bei der Befruchtung, also seien gefrorene Embryos per Gesetz geschützt. „Menschliches Leben kann nicht zu Unrecht zerstört werden, ohne den Zorn des heiligen Gottes auszulösen“, so seine Meinung. Parker zitiert auch das Buch Genesis: „Das Prinzip, dass sich menschliches Leben grundsätzlich von allen anderen Lebensformen unterscheidet und nicht einfach genommen werden kann ohne Rechtfertigung, hat tiefe Wurzeln und reicht zurück bis zur Erschaffung des Menschen als Gottes Ebenbildes.“

8. Wie äußerte sich Donald Trump zum Urteil?

Trump ließ sich auffallend viel Zeit mit einem Kommentar und äußerte sich dann überraschend ausgewogen: „Unter meiner Führung werden die Republikaner immer die Erschaffung von starken, erfolgreichen, gesunden amerikanischen Familien unterstützen. Wir wollen es für Mütter und Väter einfacher machen, Babys zu bekommen.“ Hintergrund ist, dass natürlich auch gläubige Christen versuchen, Kinder per IVF zu bekommen. Die will er offensichtlich nach dem harten Urteil nicht verschrecken.

9. Wie geht es nun weiter mit dem Thema Abtreibung?
 

Als der Oberste Gerichtshof Roe v. Wade kippte,  sagte Trump in einem privaten Gespräch, dass er glaube, diese Entscheidung könne den Republikanern schaden: In seiner Partei gibt bei diesem Thema tiefe Gräben. Da Trump nun noch einmal für die Präsidentschaft kandidieren will, ist er äußerst vorsichtig. Die „New York Times“ berichtet, er habe kürzlich unter vier Augen gesagt, er möge die Idee eines landesweit geltenden Abtreibungsverbots nach der 16. Schwangerschaftswoche. Mit drei Ausnahmen: Vergewaltigung, Inzest und Lebensgefahr für die Mutter. In derselben Unterhaltung soll er gesagt haben, dass er mit seiner Meinung bis nach seiner Nominierung warten wolle, um niemanden zu verschrecken.

10. Ist die Entscheidung endgültig?

Nein – und ob sie für alle IVF-Fälle gilt, ist längst nicht geklärt. Der Oberste Gerichtshof hat die Klage erst einmal an ein Bezirksgericht zurückverwiesen. Dort muss weiter verhandelt werden. Die Wirkung der bisherigen Entscheidung ist aber jetzt schon groß: Die Verwirrung ist da, niemand will etwas falsch machen. Es gibt erste Paare, die ihre befruchteten Embryos aus Alabama in einen anderen Bundesstaat verlegen wollen.

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