Bingen war früher nur eine Stadt am Rhein – umgeben von Wein, aber kein Inbegriff für Komasaufen. Das hat sich mit dem Einfluss des englischen Wortes „to binge“ geändert. „Bingen“ steht mittlerweile für alle Arten von Exzessen. Wirklich alle!
Wer hat sich nicht irgendwann wenigstens einmal hingegeben: der Lust auf mehr und der Unlust etwas anderes zu tun? Seit ein paar Jahren haben wir für die Völlerei, die Habgier, die Wollust und die Trägheit – einzeln oder gemeinsam – einen Überbegriff, der dem Englischen „binge“ entlehnt ist: Das „Bingen„, gesprochen „Bindschen“. Die Supertodsünde.
Sucht man im Duden nach dem noch immer modischen Wortimport, stößt man zuerst auf die Stadt Bingen am Rhein, die traditionell immerhin mit dem Konsum deutscher Weine in Verbindung gebracht wird. Danach folgt der Eintrag „Binge“, über den in jedem Kreuzworträtsel stehen könnte: „ein Begriff aus der Bergmannssprache“. Er beschreibt eine durch einstürzende Bergwerksgruben entstandene Erdvertiefung. Darin könnte zugleich ein Hinweis auf die zeitgenössische Bedeutung und ihren Ursprung liegen – wobei man so tief in die Sprachgeschichte graben muss, dass es eine Vermutung des Kolumnisten bleibt: Fest steht, dass es vor rund 3000 Jahren die urgermanischen Silben „bi“ und „innan“ gab. Sie bildeten gewissermaßen die Wurzeln, aus denen später „binge“ als „Graben“ erwuchs und im skandinavischen Raum und vor allem in Schweden auch als „Gefäß“, „Wanne“ und sogar als „Bett“. Dem Englischen blieb der zu „bin“ verkürzte „Abfalleimer“.
Im Deutschen haben wir weiterhin die Präposition „binnen“, die in Hauptwörtern wie „Binnenland“ oder „Binnenmarkt“ eine Einbettung kennzeichnet. „Binge“ könnte ein Trinkgefäß gewesen sein, mit dessen Inhalt man sich und andere begießen und abfüllen konnte. „Bingen“ wäre demnach „Bechern“.
„Binge“ bedeutete in Yorkshire „Behälter“
Der britische Linguist Joseph Wright hat unterdessen belegt, dass „to binge“ einen Ursprung in mehreren englischen Dialekten hat. Wright, der 1885 in Heidelberg promoviert wurde, später in Oxford Deutsch unterrichtete und grammatikalische Lehrbücher für das Alt- und Mittelenglische, das Alt- und Mittelhochdeutsche sowie das Gotische verfasste, gilt bis heute als einflussreicher Kenner germanischer Sprachen. Seine Lebensleistung ist das sechsteilige „English Dialect Dictionary“, in dem er aufführt, was die Spekulation des Kolumnisten stützt: „binge“ bedeutete etwa in Yorkshire „Behälter“, vor allem für Getreide: „a corn bin or box“. Peter Littger ist DER WORDSPLAINER. Der Journalist und Buchautor schrieb den Nummer 1 Bestseller „The Devil lies in the Detail – Lustiges und Lehrreiches über unsere Lieblingsfremdsprache“. Zuletzt erschien von ihm „Hello in the Round! Der Trouble mit unserem Englisch und wie man ihn shootet“.
© Max Lautenschläger
In einem weiteren Eintrag für „binge“ verweist Wright auf gleich mehrere Regionen wie Bedford, Leicester, Nottingham, Northampton, Staffordshire oder Warwick, wo das Wort das Aufquellen von Holzschiffen beschreibt. In Wrights Worten: „to soak, especially to swell a leaky wooden vessel by filling it with or plunging it into water“. Daraus entwickelte sich im 19. Jahrhundert einerseits die Bedeutung „triefnass“ („soaking“) und „durchnässend“ („drenching“), zum Beispiel „a heavy rain is a good binging shower“. Andererseits entstand ein Wortbild für exzessives Trinken, also ein „Saufgelage“ – „a bout of drinking“ oder „hard drinking“. Wright hebt hervor, dass „binging“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts an der Universität von Oxford besonders geläufig war – als Ausdruck und als Praxis.
Von da an sollte es noch einige Jahrzehnte dauern, bis „binging“ oder „a binge“ zu einem breiten kulturellen Phänomen anschwoll, das nicht nur übermäßigen Alkoholkonsum, sondern viele andere ausschweifende Arten und Unarten bezeichnet. Das „Oxford English Dictionary“ notiert für das Jahr 1937 zum ersten Mal „eating binge“, für das Jahr 1973 „a binge of window breakage“, also in etwa eine kriminelle Einbruchswelle, während im Jahr 1990 von „drug binge“ und im Jahr 2004 vom „spending binge“ der Konsumenten die Rede war. Letzteres haben Kritiker nach 2010 auch über Barack Obamas Haushaltspolitik verbreitet, der unterdessen seinem Wahlvolk zurief: „Stop binging whatever you binge!“
Netflix öffnete Tür und Tor für das „Binge Watching“
Längst wurde der universelle Slang auch in unseren Wortschatz gespült – für das, was wir früher sinnbildlich „Druckbetankung“ nannten. Spätestens seit 2013 ist er mit dem Eintrag „binge-drinking“ im Duden hochoffiziell. Es war zufällig das Jahr, in dem Netflix sämtliche Episoden der ersten Staffel der Serie „House of Cards“ online stellte und damit Tür und Tor fürs „Binge Watching“ öffnete. Es hat im Zeitalter des digitalen „Streaming“ das „Zapping“ abgelöst – eine Kulturtechnik des analogen und sogenannten linearen Fernsehens, als die Fernbedienung noch „die Macht“ genannt wurde, mit der man den Einfluss der Programmdirektoren durch hektisches Umschalten stoppen konnte.
Während der Achtzigerjahre wurde es zum Kampfbegriff gegen die Verblödung: „Ich zappe, also denke ich – wenigstens ein bisschen.“ Man sah sich ans Fernsehen ausgeliefert und hatte noch keine Vorstellung, was maßlose Auslieferung wirklich ist. Der Duden verzeichnet „Binge-Watching“ seit 2020.
Inzwischen sind der Maßlosigkeit gar keine Grenzen mehr gesetzt. Wer exzessiv lernt, spricht vielleicht von „Binge Learning“. Wer exzessiv Kolumnen schreibt, vom „Binge Writing“. Und wer sich noch zu denjenigen zählen möchte, die sie lesend verschlingen, praktiziert „Binge reading“. Ihnen kann der Kolumnist versprechen: Es kommen mehr – und schon bald auch alle auf einmal: in einem Buch.