Seltenes Syndrom: „Der Frauenarzt sagte, dass ich keine Vagina oder Gebärmutter habe“

Lisa* erfuhr als Jugendliche, dass ihr weibliche Geschlechtsorgane fehlen. Hier erzählt sie von quälenden OPs, gutem Sex ohne Penetration und einer Botschaft an ihr 14-jähriges Ich.

In der neunten Klasse hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, anders als gleichaltrige Mädchen zu sein. Außer mir hatten die meisten schon ihre Periode und tauschten auf der Schultoilette untereinander Tampons aus. Ich war verunsichert und wollte mitreden, also fragte ich meine Mutter nach dem Zeitpunkt ihrer ersten Periode. Sie muss gemerkt haben, dass mich das Thema belastet, denn wenig später nahm sie mich mit zu ihrer Frauenärztin. Nach der ersten Untersuchung hoffte ich auf eine Rückmeldung wie: „Geduld haben, deine Periode kommt schon noch.“ Stattdessen sagte die Frauenärztin aber, dass sie mich nicht richtig abtasten könne. Vermutlich sei mein Jungfernhäutchen verschlossen. Dann verwies sie mich an einen Kollegen, der es durchstechen sollte.

Diese Mini-Operation sollte wenige Tage später stattfinden. Der Kollege, ein älterer Mann, wirkte während der Behandlung ziemlich überfordert mit mir. Am Ende fertigte er ein Ultraschallbild an und forderte meine Mutter und mich auf, außerhalb des Untersuchungsraums zu warten. Kurze Zeit später stand er wieder im Türrahmen des Wartezimmer und bat meine Mutter, allein mit ihm zu sprechen. Ich war total vor den Kopf gestoßen. Es ging um meinen Körper, daher wollte ich, dass man mit mir und nicht nur über mich spricht. Meine Mutter bestand zum Glück auf ein Gespräch zu dritt. So sagte der Frauenarzt uns beiden dann ziemlich nervös und in medizinischen Fachwörtern: Ich kann kein Hymen durchstechen, weil da kein Hymen ist. Und auch keine Vagina oder kein Uterus

Keine Vagina: Die Diagnose war ein Schock

Übersetzt heißt das: Ich hatte weder ein Jungfernhäutchen noch eine Gebärmutter. Statt des rund zehn Zentimeter langen Vagina-Halses war bei mir außerdem nur eine kleine Grube vorhanden. Ich war schockiert. Richtig begriffen habe ich es aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mit diesen wenigen Informationen wurden meine Mutter und ich an die nächstgelegene Uniklinik verwiesen. Dort fiel zum ersten Mal der medizinische Fachbegriff für das, was bei mir entdeckt wurde: Das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH), eine seltene angeborene Fehlbildung, die etwa eine von 5000 Frauen betrifft. Im Uniklinikum wurde uns die Weiterbehandlung in einer Tübinger Spezialklinik empfohlen.

STERN PAID 51_23 Die Diagnose 11.57

An das erste Gespräch in jener Klinik erinnere ich mich gut. Die Ärztin war unglaublich nett und die erste Person, die mit mir auf Augenhöhe sprach. Mit Hilfe eines Schaubildes erklärte sie mir, was an meinem Körper anders war: Äußerlich sehen meine Genitalien unauffällig aus. Auch meine Eierstöcke sind intakt, aber meine Vagina und Gebärmutter fehlen. Während die Ärztin sprach, begriff ich zum ersten Mal, was das für mein Leben bedeuten würde. Um jemals penetrativen Sex haben zu können, müsste ich mich einer aufwendigen Operation und monatelanger Folgebehandlung unterziehen. Ohne Gebärmutter würde ich außerdem keine leiblichen Kinder bekommen können.

Soll ich mich operieren lassen?

Die Ärztin empfahl die sogenannte Operation nach Vecchietti. Die kann man sich etwa so vorstellen: Auf dem Bauch wird ein Spannapparat angebracht. Eine rechteckige Vorrichtung, die etwa doppelt so groß ist wie ein Smartphone. Dort, wo später der Vagina-Eingang entsteht, wird außerdem ein sogenanntes Steckgliedphantom angebracht. Das sieht in etwa aus wie ein großer Olivenkern. Per Bauchspiegelung werden diese beiden Apparaturen im Inneren des Bauches durch zwei robuste Fäden miteinander verbunden. Eine Woche lang werden die Fäden täglich nachgezogen. Die Spannung sorgt dafür, dass das Phantom in den späteren Vagina-Tunnel gedrückt wird. So entsteht durch die tagelange Dehnung schließlich die Vagina.

Die Behandlung ist aufwendig und schmerzhaft. Eine Woche lang liegt man auf der Intensivstation, darf nicht aufstehen und wird durch eine Sonde ernährt. Trotzdem sagte ich sofort zu, als die Ärztin mich fragte, ob ich mich operieren lassen wolle. Wenigstens in Bezug auf Sex wollte ich mich ein Stück normaler fühlen. Wir vereinbarten also noch vor Ort einen Termin. Als wir nach dem Gespräch die Klinik verließen, kamen mir die Tränen. Aus Überforderung, aber irgendwie auch, weil der Druck der vergangenen Wochen von mir abfiel. Ich realisierte erst in dem Moment, wie alleingelassen ich mich seit der ersten Untersuchung mit meiner Diagnose gefühlt hatte. In der Spezialklinik wusste man nun zumindest, was mit mir los war. 

Ich sagte kaum jemandem, was mit mir los war

Der Eingriff fand wenige Wochen später, kurz vor den Sommerferien, statt. Es war mir unangenehm, mit anderen über meine Genitalien zu sprechen. Deshalb öffnete ich mich nur gegenüber meiner Familie, meinem damaligen Freund und meiner besten Freundin so richtig. Bei anderen Menschen blieb ich vage. Erzählte meistens nur, dass ich über den Sommer wegfahren würde. Auch ich selbst konnte den Gedanken an das, was mir bevorstand, bis zum Tag vor der Operation gut wegschieben. Am Abend vor dem Eingriff war ich dann aber richtig nervös. Da sollte ich in Vorbereitung auf die Narkose eine Flasche Abführmittel trinken. Schon beim Geruch des Gebräus wurde mir übel. In dem Moment kamen kurz Zweifel auf. Ich dachte darüber nach, wie ich mir all das Leid ersparen könnte, wenn ich das Abführmittel einfach nicht trinken würde. So verführerisch der Gedanke war, am Ende trank ich es doch. 

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Am nächsten Morgen ging dann alles recht schnell. Eine Visite, ein kurzes Gespräch mit beiden Ärztinnen, ein paar aufmunternde Worte der Pflegerinnen und ich wurde in Richtung OP-Saal geschoben. Bis zur Tür des OP-Bereichs spürte ich noch die Hände meiner Eltern auf meinen Schultern. Dann wurde ich in Narkose versetzt und bekam eine Betäubungsspritze ins Rückenmark. 

Wie ein Fremdkörper im Bauch

Als ich aus der Narkose aufwachte, fühlte ich mich genauso, wie man es mit einem Fremdkörper im Bauch erwarten würde: furchtbar hilflos. Eine Woche lang war meine einzige Fluchtmöglichkeit das Schlafen. Und das tat ich. Mit Hilfe des vielen Schmerzmittels, so viel, dass ich nur bruchstückhafte Erinnerungen an die Woche auf der Intensivstation habe. In meinem Kopf tauchen beim Gedanken daran einzelne Bilder auf: Meine Haare, wie sie durch den Schweiß am Kopfkissen festklebten. Das knirschende Geräusch, wenn der Spannapparat die Fäden in meinem Bauch nachzog. Die höllischen Schmerzen dabei. Aber auch ein paar schöne Bilder: Meine Mutter, die mir vorlas, eine Krankenschwester, die mir Fotos von ihrem Pferd mitbrachte, weil sie wusste, wie gern ich Pferde mag und die Ärztin, die immer wieder mit aufmunternden Worten an mein Bett kam.

Nach einer Woche, die sich gleichzeitig endlos lang und endlos kurz anfühlte, wurde mir der Apparat durch eine weitere Operation entfernt. Danach konnte ich das erste Mal wieder aufstehen. In den sieben Tagen hatte ich geschätzt zehn Kilo verloren, darunter fast meine gesamte Beinmuskulatur. Ich musste also erst einmal wieder lernen, eigenständig zu laufen. Daraufhin begann die zweite Phase der Behandlung. Sechs Monate lang musste ich nun fast durchgehend ein weiteres Phantom in mir tragen, um zu verhindern, dass die hergestellte Öffnung wieder zuwächst. Auch aus dieser Zeit habe ich Bilder in meinem Kopf: Ich, wie ich auf einer sterilen Krankenhaustoilette im kalten Neonlicht sitze und das Plastikphantom, das aussieht wie eine Art abgerundeter Vibrator, nach jedem Toilettengang abwasche, auf Trockentüchern ablege, eincreme und wieder in eine offene Wunde einführe. Meine Beine, die dabei wacklig wie Pudding sind. Und die brennenden Schmerzen, die kaum auszuhalten waren und schlimmer wurden, je mehr ich mich verkrampfte.

Wird Sex immer schmerzhaft sein?

Nach sechs Monaten war die Wunde schließlich verheilt und die Behandlung abgeschlossen. Schon während meiner Zeit im Krankenhaus habe ich manchmal darüber nachgedacht, was der Eingriff mit meiner Sexualität machen würde. Ich grübelte, ob Sex für mich gedanklich immer mit Schmerzen verbunden sein würde und, ob es sich mit mir anders anfühlen würde als mit anderen Frauen. Und ich dachte darüber nach, ob ich deshalb zurückgewiesen werden würde.

Die Sorge, dass mir Sex weh tun würde, verflog schnell. Die Angst vor Zurückweisung aber begleitete mich noch viele Jahre lang. Wenn ich einen neuen Mann kennenlernte, stellte ich mir immer dieselben Fragen: Erzähle ich es vor dem Sex? Könnte er sonst was merken? Wenn nicht, wann erzähle ich es dann? Zerstöre ich damit die Stimmung? Nach dem Sex machte ich mir dann Sorgen, dass die Männer vielleicht nur aus Höflichkeit selbst nichts ansprechen oder, weil sie mich nicht verletzen wollen. Obwohl meine Familie offen und tolerant ist, bin ich wie die meisten in meiner Generation doch irgendwie mit der Vorstellung groß geworden, dass die Frau eine Vagina hat, in die der Penis des Mannes reinpasst. 

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Ich dachte insgeheim auch, dass sich alle Männer früher oder später fortpflanzen wollen und mich deshalb Jahre später verlassen würden. Und so hatte ich mich selbst zwar dank der frühen Diagnose recht schnell damit abgefunden, keine eigenen Kinder zu bekommen, dass es aber liebevolle Männer gibt, denen es genauso geht, war für mich lange schwer vorstellbar. Eine Zeit lang fragte ich mich sogar, ob ich durch das Syndrom weniger Frau bin als andere Frauen.

Ich musste lernen, mich zu akzeptieren

Heute stelle ich mir keine dieser Fragen mehr. Meine Gedanken von damals erschrecken mich regelrecht. Ich musste mit den Jahren erst lernen, mich zu akzeptieren. Mit allem, was ich habe und auch allem, was ich nicht habe. Es half mir, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren weiterentwickelt hat. Heute herrscht mehr Bewusstsein dafür, dass das Geschlecht nicht vom Aussehen der Genitalien abhängt. Ich würde die Operation zwar genauso wieder machen lassen, weiß heute aber auch, dass Sex und Intimität viel mehr ist als nur Penetration. Damals war es für mich dagegen kaum vorstellbar gewesen, dass es auch eine Form der Beziehung geben könnte, die ohne das klassische Bild von Sex auskommt.

Ich lebe heute mit meiner Diagnose sehr gut. Ich bin glücklich, führe eine tolle Beziehung und super Freundschaften. An manchen Tagen überkommt mich die Angst, im Alter allein zu sein. Aber ich weiß, dass mich auch Kinder davor nicht schützen können. Und noch heute lerne ich mich und meinen Körper immer besser kennen. Erst in den vergangenen Jahren habe ich angefangen, mich für meinen Zyklus zu interessieren. Den habe ich durch meine Eierstöcke nämlich auch ohne Blutung. Könnte ich heute mit meinem 14-Jährigen Ich sprechen, würde ich sagen: „Du musst keine Angst haben. Du bist gut so wie du bist und Unsicherheiten sind normal, egal ob mit MRKH-Syndrom oder ohne.“

*Name geändert

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