EM 2024: Dietmar Hamann: „Das Tempo der EM ist zu hoch für Harry Kane“

Vor dem EM-Finale: TV-Experte Dietmar Hamann über den kriselnden englischen Kapitän, Spaniens königlichen Sechser – und wer im DFB-Team Toni Kroos ersetzen könnte.

Anruf bei Dietmar Hamann, 50, langjähriger Abwehrspieler des FC Liverpool und von Manchester City. Hamann ist gerade zu Dreharbeiten in London. Ein Film zum 20. Jahrestag des Liverpooler Champions-League-Triumphs 2005 entsteht; eine Erinnerung an jenes legendäre Spiel, das Liverpool nach 0:3-Rückstand gegen Milan drehte und im Elfmeterschießen gewann. Hamann steuerte damals ein Tor bei. Er ist noch heute ein bekannter Mann auf der Insel – und im benachbarten Irland. Für den Sender RTÉ One, „die irische ARD“, wie Hamann sagt, hat er zahlreiche EM-Spiele kommentiert. 

Herr Hamann, mit Blick auf Sonntag: Spanien oder England?
Wenn Sie mich vor ein paar Tagen gefragt hätten, wäre meine Antwort gewesen: Spanien wird Europameister, klare Sache. Aber jetzt nach dem Sieg der Engländer gegen die Niederlande, da komme ich ins Grübeln. Wie die das Spiel gebogen haben kurz vor Schluss, war schon beeindruckend. 

Schön anzuschauen war es nicht.
Die Defensivleistungen der Engländer werden unterschätzt. Die kommen mir zu kurz in all den Kommentaren. Ihr Spiel ist ästhetisch nicht besonders hochwertig – okay. Aber es ist erfolgreich. Jetzt stehen sie zum zweiten Mal nacheinander in einem EM-Finale, während der Titelverteidiger Italien schon im Achtelfinale scheiterte. Das verdient Respekt.

© IMAGO/Revierfoto

Sie sind gerade in London. Wie ist Ihre Wahrnehmung: Bekommt Trainer Gareth Southgate diesen Respekt?
Southgate wird kritisch gesehen und von den Medien hart angepackt. Was er bräuchte, wäre ein Titel. Etwas Zählbares. Das Erreichen des EM-Endspiels 2021 wird in England nicht als Erfolg gewertet. Im Gegenteil. Man hat damals den Titel an Italien verloren, im Elfmeterschießen – und das im eigenen Wohnzimmer, in Wembley. Nein, 2021 ist eine Wunde. Aber sie könnte geheilt werden mit einem Sieg gegen Spanien.

Schon bei der EM 2021 war Southgate Trainer der englischen Nationalmannschaft. Wie hat er sich seitdem verändert?
Southgate zieht sein Ding durch. Er hat gigantische Widerstandskräfte unter Beweis gestellt, wenn man bedenkt, welch starken Gegenwind er in der Heimat bekommt. Allein die beiden Wechsel zehn Minuten vor Schluss gegen Holland: Kane und Foden raus, Palmer und Watkins rein. Das musst du dich erstmal trauen, den Kapitän und den wichtigsten Mittelfeldmann runterzunehmen – in einer Phase, wo das Spiel auf des Messers Schneide steht. Ging dann gut, Watkins schoss in der 91. Minute das Siegtor. Es war dennoch eine steile Wette.

Englands Kunst besteht darin, andere Mannschaften schlecht aussehen zu lassen. 

Harry Kane ist bislang blass geblieben. Liegt das Ihrer Meinung nach am Spielsystem oder an ihm selbst?
Kane macht den Eindruck, als hätte diese EM ein zu hohes Tempo für ihn. Das Spiel rauscht oftmals an ihm vorbei. Gegen die Niederlande hat er einen Elfmeter reingemacht, aber aus dem Spiel heraus kam wenig. 

Wie könnten die Engländer Spanien schlagen? Die Mannschaft von Trainer Luis de la Fuente scheint übermächtig, als bislang einziges Team des Turniers hat es all seine Spiele gewonnen. 
Chancenlos sehe ich die Engländer keinesfalls. Ihre Kunst besteht darin, andere Mannschaften schlecht aussehen zu lassen. England ist eine Abwehrmaschine, aggressiv und destruktiv. Gegen die kannst du kein schönes Spiel machen. Ich bin gespannt, mit welchem Plan Spanien in die Schlacht ziehen wird.

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Was wäre Ihr Plan?
Am Ballbesitz-Spiel festhalten und die Härte der Partie annehmen, so wie im Viertelfinale gegen Deutschland. Spanien hat Spieler, die beides können: aufbauen und zerstören. Schauen Sie auf Rodri. Für mich der beste Sechser der Welt. Er ist ein Stratege wie Toni Kroos, geschult von Pep Guardiola bei City, aber er kann auch dazwischenhauen, dass es kracht. Diese Kombination findest du selten. Für mich ist es jedes Mal ein Geschenk, ihm zuschauen zu dürfen. Auf Rodri wird es am Sonntag ankommen. Er kann den Unterschied machen. 

Deutschland ist gegen Rodris Spanien im Viertelfinale gescheitert. Wo verorten Sie die das DFB-Team? Eine Stufe unter Spanien? 
Jedenfalls ist unsere Nationalmannschaft nicht so toll, wie jetzt überall zu lesen ist. Stimmungsmäßig war die EM ein Riesenerfolg, das schon. Aber sportlich? Note 3, befriedigend.

Toni Kroos ist nicht immer die Lichtgestalt gewesen, als die er zuletzt gefeiert wurde.

Woran machen Sie das fest? 
Es wird viel über die Engländer und Franzosen geschimpft, weil sie angeblich solch einen zynischen Fußball spielen. Doch beide Teams haben es ins Halbfinale geschafft. Die sind abgezockt, und diese Kaltschnäuzigkeit habe ich in unserem Spiel vermisst.

Toni Kroos, einer der erfahrensten deutschen Spieler, ist nun zurückgetreten. Wie kann man die Lücke füllen, die er hinterlässt?
Toni hat seine Sache gut gemacht bei der EM, aber ich glaube nicht, dass das deutsche Spiel kollabiert, wenn er nicht mehr da ist. Man darf nicht vergessen: Bei der WM 2018 und EM 2021, die riesige Enttäuschungen waren, stand auch Kroos auf dem Platz. Er ist nicht immer die Lichtgestalt gewesen, als die er zuletzt gefeiert wurde. Den Platz von Kroos kann vielleicht mal Aleksandar Pavlovic (FC Bayern, Anm. d. Red.) hineinwachsen oder auch ein Angelo Stiller (VfB Stuttgart). Beide aber sind jung, beide brauchen Zeit. Zum Glück ist das nächste Turnier erst 2026, da gibt es noch genügend Raum zum Reifen. 

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