Viele, auch unser Kolumnist, haben die Sylt-Nazis kritisiert und verspottet. Welche Worte aber finden wir für die Mörder von Bad Oeynhausen und Mannheim?
Man möchte eigentlich nur noch schreien. Genauer gesagt: Man sollte nur noch schreien. Die Nachrichtenlage, so scheint es, erfordert von der öffentlichen Person, dass man brüllt, sich erregt, in Großbuchstaben kommuniziert. Wenn schon nicht andauernd, dann aber wenigstens über die richtigen Dinge. Zuletzt beobachtet nach der schrecklichen und tödlichen Attacke auf einen 20-Jährigen namens Philippos, mutmaßlich begangen durch einen 18-jährigen Syrer. Schnell waren sie da, die Rufe, ja, Vorwürfe: „JA, UND DA SAGST DU NIX!“, „BEI SYLT GANZ LAUT UND HIER …?!“
So lautete die Unterstellung, der totgeprügelte Jugendliche in Bad Oeynhausen oder der erstochene Polizist Rouven Laur in Mannheim emotionalisierten mich weniger als ein paar Deppen, die auf Sylt Nazipopliedchen trällern. Das ist lächerlich, falsch und unverschämt. Gleichwohl muss ich mir die Frage stellen, wie ich (als Vertreter der Medien) mit solchen Anwürfen umgehe. Warum hat ein nicht unwesentlicher Teil der Öffentlichkeit den Eindruck, dass eine Unwucht besteht, wenn es darum geht, gesellschaftliche Probleme zu beschreiben?
Dieser Text bietet keine Lösungen an. Er hat keine Antworten darauf, wann, wie und wo Abschiebung eine Lösung wäre, ob wir mehr Polizeipräsenz in den Städten brauchen, ob härtere Strafen und eine Herabsetzung des Mindestalters Gewalteskalationen verhindern könnten. Ich glaube nicht daran, aber das spielt hier keine Rolle.
Die Art der Berichterstattung
Was ich beantworten möchte, ist die Frage, ob die Art der Berichterstattung richtig ist. Wenn man Themen wie Sylt und Bad Oeynhausen gegeneinanderhält, muss ich sagen: Wahrscheinlich war sie nicht richtig. Nachdem das Video von den Polo- und Perlenketten-Hools vom „Pony“ mit ihrer schäbigen Remigrationspolka an die Öffentlichkeit gelangt ist, befand sich der Journalismus im Ausnahmezustand wegen der „Champagner-Nazis“. Das war alles säftelnd, grusellustig, aufrichtig besorgt, klar, aber auch: einfach. Da sind die elitären Arschlöcher vom Zahnarzteiland Sylt mit ihrer kulturellen Aneignung rechtsradikalen Brauchtums irgendwelcher sachsen-anhaltinischer Dorffeste. Auf sie kann man mit dem Finger zeigen, da fällt einem noch ein Gag zu ein, da hat man wenig mit zu tun. Der Kampf gegen rechts wird aus einem Co-Working-Space in Friedrichshain deutlich bequemer geführt, als wenn man in Freital auf die Straße geht.Beisenherz Kolumne Sylt 10.40
Wenn schon Demo, dann mit 100.000 in Hamburg am Jungfernstieg. Warum man genau dorthin allein nach 22 Uhr eher nicht gehen sollte, wenn einem an der eigenen Unversehrtheit gelegen ist, diese Frage indes wird selten gestellt. Weil die Antwort darauf überhaupt keinen Spaß macht: falsch verstandene Toleranz, ein Verständnis von Integration, das sich darin genügt, Migranten nicht nur geografisch am Rande der Gesellschaft zu parken, und eine Mitte, die aus Angst vor Rassismusverdacht rhetorisch um die Schmerzpunkte herumtänzelt. Bis die AfD und ihre Helfer sich der Sache annehmen und die Wirklichkeit auf eine Weise abbilden, dass diese plötzlich aussieht wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch.
Natürlich können wir rechtsradikale Gassenhauer wie auf Sylt nicht schulterzuckend hinnehmen. Aber wer bei „L’amour toujours“ über Wochen hinweg den Regler auf zehn dreht, darf sich nicht wundern, wenn nach einem vergleichsweise nüchtern beschriebenen Fall wie in Bad Oeynhausen der Eindruck entsteht, dass öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung in einem krassen Widerspruch zueinander stünden. Und wem das nutzt, dafür muss man nicht in die USA blicken.