Demos gegen Rechtsextremismus: Warum wir aufhören müssen, alle AfD-Wähler zu dämonisieren

Was folgt aus den Demos gegen Rechtsextremismus? Um den Aufstieg der AfD zu stoppen, müssen wir sie ohne Hysterie inhaltlich stellen. Für alle Progressiven heißt das: naive Standpunkte hinterfragen.

Was hätte ich getan, wenn ich 1923 Zeuge von Hitlers Putschversuch geworden wäre? Oder wenn ich die Novemberpogrome im Jahr 1938 miterlebt hätte? Diese Fragen haben sich viele von uns schon einmal gestellt. Nun ist die Zeit gekommen, das herauszufinden, ist dieser Tage oft zu hören. Die Recherchen über ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten und Vertretern der AfD in Potsdam, bei dem über die Deportation von Einwanderer*innen diskutiert wurde, haben große Teile der Gesellschaft wachgerüttelt. 

Jetzt müssen wir zeigen, dass wir das viel zitierte „Nie wieder“ ernst nehmen. Hunderttausende Menschen und auch mich persönlich trieb dieses Gefühl in den vergangenen Wochen auf die Straße. Die Zeiten lähmender Gleichgültigkeit und einer naiven Haltung gegenüber der AfD als vermeintlicher Protestpartei sind vorüber. Und so ist auf vielen der auf den Demonstrationen gezeigten Plakate folgerichtig zu lesen, „Nie wieder ist jetzt!“. 

Was dort aber auch zu lesen ist, sind Sätze, die mich nachdenklich machen. Da heißt es beispielsweise: „Alle hassen die AfD!“, „Ganz Berlin hasst die AfD!“ oder „AfD = Nazis“. Obwohl ich diesen Aussagen intuitiv zustimmen möchte, zweifle ich beim zweiten Blick nicht nur am Inhalt dieser Botschaften, sondern auch daran, wie sinnvoll sie aus strategischer Sicht im Kampf gegen den Rechtsextremismus und das Erstarken der AfD sind.

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Ein Drittel der AfD-Anhänger sind rechtsextrem

Ja, die AfD ist brandgefährlich – das sollten wir nicht erst seit dem besagten Treffen in Potsdam wissen. Oft genug haben ihre Vertreter*innen in Reden oder öffentlich gewordenen privaten Nachrichten gezeigt, wie menschenverachtend sie über Personen anderer Herkunft denken und wie wenig sie von pluralistischen Parteiensystemen und Medienlandschaften halten. Erst kürzlich hat der Verfassungsschutz drei Landesverbände der AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Und Björn Höcke, Spitzenkandidat der AfD bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Thüringen, ist aktuell der Volksverhetzung angeklagt

Sollten sie an die Macht kommen, werden sie versuchen, unser demokratisches System zu unterwandern und auszuhöhlen. Genau aus diesem Grund ist es auch keine Option die AfD kleinzukriegen, indem man sie mitregieren lässt – wie es jüngst Marc Felix Sarrao in der NZZ vorschlug. Das Risiko für unsere Demokratie wäre zu hoch und die Erfahrung aus Trumps Präsidentschaft zeigt, dass eine Beteiligung an der Regierung keineswegs zu einer Entradikalisierung oder geringeren Zustimmungswerten führt. 

Politikwissenschaftlerin Magali Mohr-Ahlers
© d-part

Dennoch müssen wir anerkennen, dass „die AfD“ aus weitaus mehr Mitgliedern besteht als der Handvoll Abgeordneter, über die man in Zeitungen liest. Im Gegenteil: Sie findet bei immer mehr Wähler*innen Anklang – in Umfragen erreicht die Partei aktuell Zustimmungswerte von rund zwanzig Prozent. Studien wie die der Hans-Böckler-Stiftung zeigen, dass die AfD längst keine reine Protestpartei mehr ist: Die meisten Menschen wählen sie nicht trotz, sondern wegen ihrer thematischen Ausrichtung. 

Das bedeutet aber nicht, dass alle Wähler*innen rechtsextrem sind. Laut Analysen von Infratest dimap, lassen sich rund 27 Prozent, also knapp ein Drittel der AfD-Anhängerschaft, als rechtsextrem einstufen, während 25 Prozent als „ausgeprägt rechts“ gelten. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung sind es konstant 8 Prozent, die als rechtsextrem eingestuft werden. Der AfD ist es also gelungen besonders in diesem äußeren rechten Milieu Fuß zu fassen. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass mindestens die Hälfte der Wählerschaft aus der Mitte der Gesellschaft kommt.

Rechtsextremismus darf die Demokratie nie tolerieren

Hass und die Dämonisierung aller, die mit der AfD sympathisieren, werden uns ebenso wenig weiterhelfen wie die moralisierenden und überheblichen Versuche, Themen und Perspektiven der AfD pauschal als unsäglich oder populistisch zu delegitimieren. Dieses Verhalten, das ich auch in meinem Freundeskreis und verstärkt in den sozialen Medien erlebe, führt nur zu einer weiteren Entfremdung zwischen AfD-Sympathisant*innen, den demokratischen Parteien und der restlichen Bevölkerung. Das nutzt allein der AfD. Und auch viele Politiker*innen wandeln derzeit auf einem Irrweg. 

Auf der einen Seite steht der Bundeskanzler, der denkt, mit einem polemischen Magazincover – „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ – bei AfD-Wähler*innen punkten zu können. Um die Wirkung einer derartigen Botschaft auf migrantische Communities in Deutschland scheint er sich nur wenig zu sorgen. Auf der anderen Seite steht der Bundesverband der Grünen, der vermutlich aus dem Wunsch heraus „Haltung“ zu zeigen, auf Instagram den Slogan „Gegen Rechts sein ist unsere demokratische Pflicht“ teilt und damit ein sehr verqueres Demokratieverständnis offenbart. 

Ob es uns gefällt oder nicht: „Rechts“ ist Teil des demokratischen politischen Spektrums. 

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Rechtsextremismus hingegen können und dürfen wir in unserer Demokratie niemals tolerieren. Deshalb muss das Aufgreifen der menschenverachtenden Rhetorik und destruktiven Narrative der AfD für pro-demokratische Politker*innen ein Tabu bleiben. Doch müssen sie endlich damit aufhören, sich in Talkshows gegenseitig des „Nach-Rechts-Rückens“ zu bezichtigen, sobald auch nur Teilaspekte der von der AfD besetzten Themen und Argumente für berechtigt erklärt werden. Es geht ohnehin längst nicht mehr um die klassischen Verständnisse von „Rechts“ und „Links“ – das zeigt nicht zuletzt die vor Kurzem gegründete Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“, die eine ähnlich restriktive Migrationspolitik verfolgt wie die AfD.

Naiven Blick auf Migration hinterfragen

Um den Aufstieg der AfD zu stoppen, müssen wir uns ernsthaft und ohne Hysterie mit ihrer Agenda und Kritik auseinandersetzen. Dazu sollten wir einerseits herausarbeiten, bei welchen Themen sie – so sehr es schmerzt, das zuzugeben – berechtige Kritikpunkte vertritt. Dazu gehören die hohe Steuer- und Abgabenlast der Mittelschicht ebenso wie die im internationalen Vergleich höchsten Strom- und Energiepreise für Industrie und Bürger*innen. Auch der Vorwurf der dysfunktionalen Migrationspolitik muss ehrlich diskutiert werden. 

Andererseits muss die AfD mit aller Entschlossenheit und Klarheit inhaltlich dort gestellt werden, wo sie sich völkisch-nationalistischer Sprache und Narrative bedient. Ihre rassistische, menschenverachtende und anti-demokratische Politik müssen wir als solche entblößen.

Diese offene Auseinandersetzung mit der AfD, ihren Themen und ihrer Wählerschaft ist nicht einfach. Sie wird gerade uns, die sich als progressiv begreifen, am schwersten fallen. Denn: Sie bedeutet auch, dass wir uns an die eigene Nase fassen müssen und unseren teils naiven Blick auf Themen wie Migration hinterfragen müssen. Wir müssen darüber sprechen, wie wir mit Migrant*innen umgehen, die straffällig werden oder unser Grundgesetz nicht respektieren. 

Auch die in Deutschland nachweislich unter einigen Muslim*innen verbreiteten antisemitischen Einstellungen dürfen wir nicht einfach verschweigen. Denn: „Nie wieder“ heißt nicht nur, dass wir Rechtsextremismus bekämpfen müssen, sondern dass wir Antisemitismus in keiner Form dulden dürfen. Niemals. In keiner Institution, Organisation, bei keiner Versammlung, Demonstration oder auch nur im familiären Kreis. Dass in den vergangenen Monaten und Jahren Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens zugenommen haben, ist ein Armutszeugnis. Um Antisemitismus zu bekämpfen, müssen wir die Individuen und Gruppen, von denen er ausgeht, identifizieren und mit aller Härte bekämpfen.

„Nie wieder“ bedeutet Menschen muslimischen und jeglichen Glaubens vor den Abschiebefantasien der AfD, vor Fremdenhass und Rassismus zu schützen, ebenso wie Menschen jüdischen Glaubens vor Antisemitismus – auch aus migrantischen Communitys. Demokratische Prozesse und Werte sind komplex, anstrengend und erfordern differenzierte Herangehensweisen. Sie sind eine Zumutung. Aber eine, die wir uns als Demokrat*innen alle zumuten können.

Magali Mohr-Ahlers studierte Europawissenschaften in Maastricht und Globale Migration am University College in London. Nach mehreren Jahren in der Meinungs- und Demokratieforschung arbeitet sie jetzt in der Wissenschaftskommunikation in Berlin. Sie ist Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen.

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