Vor ihrem 70. Geburtstag blickt die spannende Doku „Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ auf ihre lange Kanzlerschaft zurück.
Wenige Tage vor ihrem 70. Geburtstag am 17. Juli zeigt das Erste eine fünfteilige Dokumentation über die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (69). Die Politikerin war die erste Frau in diesem Amt und die erste deutsche Regierungschefin, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist. Sie war vom 22. November 2005 bis zum 8. Dezember 2021 Kanzlerin – und damit nur zehn Tage kürzer im Amt als Rekordhalter Helmut Kohl (1930-2017), der von 1982 bis 1998 ebenfalls 16 Jahre lang an der Regierungsspitze war.
Die Doku „Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ von Regisseur Tim Evers („Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“) ist in fünf kurzweilige Kapitel unterteilt: „Start-up“, „Unter Männern“, „An der Macht“, „Welt aus den Fugen“ und „Zapfenstreich“. Ab Montag (8. Juli) sind alle fünf Episoden in der ARD Mediathek zu sehen. Eine 90-minütige Fassung zeigt der Sender zwei Tage vor Merkels Geburtstag am 15. Juli um 22:30 Uhr im Ersten.
Merkel-Zitate, Archivaufnahmen und Zeitzeugen-Interviews
Die Dokumentation spürt den vielen persönlichen Fassetten der Kanzlerin nach und wirft einen Blick auf ihre 16-jährige Kanzlerschaft. Zu Wort kommen Weggefährten und Kritiker, darunter die preisgekrönte Münchner Autorin Samira El Ouassil (39), der Berliner YouTuber LeFloid (36), der Erfinder der Interviewreihe „Jung und Naiv“ Tilo Jung (38), die ukrainisch-deutsche Politikerin Marina Weisband (36), die Merkel-Biografin Evelyn Roll (71), der preisgekrönte „Zeit“-Korrespondent Christoph Dieckmann (68) – wie Merkel Pfarrerskind und in der DDR aufgewachsen -, die Berliner Klimaschutzaktivistin Carla Reemtsma (26) sowie die Politstars und Merkel-Vertrauten Annegret Kramp-Karrenbauer (61) und Thomas de Maizière (70, von 2005 bis 2009 Chef des Kanzleramts).
Bemerkenswert ist, dass auch Merkels Kritiker Anerkennendes zu berichten wissen und die engen Vertrauten Ernüchterndes. In Kombination mit klug ausgewählten Passagen aus Interviews mit Angela Merkel persönlich und Archivaufnahmen von relevanten Stationen ihrer Karriere entstand ein beeindruckendes, ausgewogenes und bis zum Schluss spannendes Porträt der einst „mächtigsten Frau der Welt“ („Forbes“) – der Episodenmarathon ist garantiert.
„Zu sehr Wessi für den Osten. Zu sehr Ossi für den Westen. Und dann auch noch Frau“
Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden zwischen Bewunderung und Ablehnung pendeln für diese „protestantische, geschiedene, kinderlose, Naturwissenschaftlerin aus dem Osten“. Mehr „Außenseiter“ gehe kaum in der rheinisch-katholisch geprägten CDU: „Zu sehr Wessi für den Osten. Zu sehr Ossi für den Westen. Und dann auch noch Frau“, fasst die Stimme aus dem Off zusammen. Und weiter: „Dass sie nicht recht dazugehört, nur eine ‚angelernte‘ Bundesdeutsche ist, riefen sie ihr noch hinterher, als sie schon längst die mächtigste Frau der Welt war. Ihr Aufstieg ist auch eine Art Migrationsgeschichte.“
Evelyn Roll, damalige Hauptstadtkorrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“, erinnert sich: „Das war eine Hochgeschwindigkeitskarriere. Wenn sie nicht immer so unterschätzt worden wäre, hätten das andere auch schon gemerkt, dass man da jetzt mal hingucken muss, wenn einer wie so eine Rakete da durchzieht.“ Die Sache mit dem Unterschätzen betont auch Thomas de Maizière. „Ihr ganzes halbes Leben lang war ihr Erfolgsgeheimnis, dass sie immer unterschätzt wurde.“
Angela Merkel – „Kohls Mädchen“, „kaltblütige Männermörderin“, „Teflon-Don“, „Girl Boss“
Beim Versuch Angela Merkel zu beschreiben, fallen in der Doku die unterschiedlichsten Begriffe: „Kohls Mädchen“, „kaltblütige Männermörderin“, „Girl Boss“… Trotz ihrer Ausnahmeleistung sei sie aber „keine aktive Feministin“ gewesen. „Angela Merkel siegt ohne offenen Kampf. Ihre stärksten Waffen sind ihre Geduld, ihr Schweigen und Warten können“, heißt es und an anderer Stelle „nachdenken, beraten und dann entscheiden“. Auch habe sie gewusst, mit „männlichen Eitelkeiten“ gekonnt umzugehen.
Dennoch habe man nicht gewusst, wofür sie stehe, sagt ein ehemaliger Parteifreund, als „Teflon-Don“ bezeichnet sie YouTuber LeFloid. „Die öffentliche Meinung über Angela Merkel hat sich viel mehr geändert als Angela Merkel selbst“, weiß dagegen Thomas de Maizière.
Finanzkrise, Atomausstieg, Migrationskrise („Wir schaffen das“), Klimakrise, Corona, die Gaspipeline, die Dramen um Annegret Kramp-Karrenbauer, Wolodymyr Selenskyj, Alexej Nawalny, Putin, öffentliche Zitteranfälle… alles kommt zur Sprache und doch ist „Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ kein wilder Ritt, sondern das Ergebnis genauer Beobachtung und gründlicher Recherche.
Queen Elizabeth und Angela Merkel schreiben Geschichte
Kurz vor ihrem freiwilligen Abschied als Kanzlerin bekam Angela Merkel 2021 noch eine Privataudienz bei Queen Elizabeth II. (1926-2022). „Machen wir ein Bild. Machen wir Geschichte“, sagt die britische Königin freundlich zur prominenten Politikerin. „Ja, das ist Geschichte“, lacht Merkel ebenso freundlich zurück. Auch diese rührende kleine Szene hat es in die Doku geschafft, „zwei Institutionen“, heißt es aus dem Off, und „Geschichte haben beide geschrieben“.
„Und was bleibt von 16 Jahren Angela Merkel? Hat sie uns vor Schlimmerem bewahrt oder zu wenig für die Zukunft getan? Oder beides?“ – Auf solche Fragen, die sich die Filmemacher gestellt haben, gibt Thomas de Maizière zum Schluss diese Antwort: „Die Krisen haben sie so sehr beschäftigt, dass andere Dinge wie die Modernisierung unseres Staates… dazu reichte die Kraft nicht.“