„Reichsbürger“-Prozess: Als die mutmaßlichen Verschwörer das Gericht betreten, wird es still. Und dann lässt die Anklage in Abgründe blicken

Der erste Tag des Terror-Großprozesses gegen die „Gruppe Reuß“ beginnt gereizt: am Morgen lange Schlangen vor dem Gericht in Stuttgart-Stammheim, drinnen herrschen strengste Sicherheitsvorkehrungen. Am entspanntesten wirken die Richter und die Angeklagten.

Am frühen Morgen, noch bevor das erste Wort in diesem historischen Terrorprozess gesprochen ist, herrscht vor dem Gerichtsgebäude in Stuttgart-Stammheim gereizte Stimmung. Vor dem Flachbau des Oberlandesgerichts werden die Warteschlangen länger. Eine Drehtür funktioniert nicht. Auch die Sicherheitsvorkehrungen im modernen Neubau brauchen Zeit. 

Jacke, Uhr, Schmuck, Gürtel, Handy, bitte alles ablegen und einschließen. Taschentücher – geht nicht, eins ist erlaubt, sagt eine Beamtin. Auch Hustenbonbons sind verboten. „Ist wie am Flughafen“, sagt eine gut gelaunte Justizbeamtin während der Leibesvisitation in der Kabine, „nur dass Sie sich danach nicht an den Strand legen“. 

„Wie am Flughafen“

Ein Strand erscheint unendlich weit weg in Stammheim, ein Stück Geschichte des Terrors in Deutschland dagegen nicht so sehr. Ganz in der Nähe hat die Bundesrepublik Deutschland den Terroristen der RAF den Prozess gemacht, viele saßen gleich nebenan im Gefängnis. 

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Auch Saal 1 des Gerichts ist zu einer Sicherheitszone hochgerüstet. Eine Glasfront mit neun Fenstern trennt das Publikum von Gericht, den Staatsanwälten und Verteidigern. Eine zweite, seitliche Glasfront Gericht und Publikum von den neun Angeklagten. Mit mehr als einer Stunde Verspätung werden die Angeklagten in den Saal geführt. Plötzlich wird es still. 

Die neun von insgesamt 26 Angeklagten der mutmaßlichen rechten Terrorgruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß, die nach Ansicht der Bundesanwaltschaft die Bundesregierung stürzen und mit Waffengewalt die staatliche Ordnung in Deutschland beseitigen wollten, sind Männer jenseits der 40, teils deutlich. In Stuttgart sind es tatsächlich nur Männer.

Deutsche Staatsbürgerschaft? – „Korrekt“

Markus Peter L., mit 47 Jahren einer der Jüngsten, wird als letzter in den Saal geführt. Er wirkt ruhig, lässt den Blick durch den Saal schweifen. Als der Vorsitzende Richter fragt, ob er die deutsche Staatsbürgerschaft hat, sagt er nur: „Korrekt.“ 

Sein Fall wird nach Einschätzung von Beobachtern wichtig werden für das gesamte Verfahren. Er ist unter anderem wegen versuchten Mordes angeklagt. Er hatte mit einem halbautomatischen Gewehr auf Polizisten eines Sondereinsatzkommandos gefeuert und einen schwer verletzt. 

Als ein Vertreter der Bundesanwaltschaft, im Wechsel mit einer Kollegin, ab kurz nach halb elf die Anklage verliest, scheint sich die Hektik des Anfangs nach und nach zu verflüchtigen. Die meisten anderen Angeklagten hören sich ruhig an, was ihnen vorgeworfen wird. 

Die Anklage gibt Einblicke in eine selbsternannte Kampftruppe, die eine „tiefe Ablehnung der staatlichen Institutionen und der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ verbunden habe. Sie nutzten unter anderem einen Verschwörungsmythos, demzufolge deutsche Politiker angeblich in satanischen Ritualen Kinder misshandelten. So machten sie diese verächtlich. 

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Nach Ansicht der Ermittler plante die Gruppe zudem anschließende „Säuberungen“ für die Zeit nach dem Umsturz, angeblich sogar Morde an Staatsdienern und sonstigen Missliebigen. Zur Ausrüstung für den „Tag X“, den Zeitpunkt des Putsches, gehörten demnach nicht nur mehrere hundert Schusswaffen, mehr als 140.000 Schuss Munition und andere Ausrüstung wie Sturmhauben und Plastikhandfesseln. 

Markus L., ein Schütze und laut den Ermittlern ein Waffenbastler, besaß neben Gewehren, Messern und Schlagwerkzeugen auch Schutzwesten und Gasmasken. Er habe in jedem Zimmer seiner Wohnung „jederzeit Zugriff auf mindestens eine Waffe“ gehabt, so der Staatsanwalt. 

Kein Widerspruch, keine Selbstzweifel

Die Anklage erzählt von einer Gruppe, die getrieben gewesen sein soll. Von einer Mischung aus Hass und Hybris, die durch keinerlei Widerspruch und Selbstzweifel erschüttert wurde. Wie gefährlich die Gruppe tatsächlich war, will der 3. Strafsenat in den nächsten Monaten klären. Er hat bisher 49 Verhandlungstage angesetzt, Termine bis Anfang kommenden Jahres. Allerdings rechnen Experten aufgrund der immensen Zahl Angeklagter und der Tatsache, dass ihr Prozess auf drei Gerichte aufgeteilt wurde, eher mit einer Prozessdauer von mindestens drei bis vier Jahren. 

Die beiden anderen Prozesse beginnen in den kommenden Wochen in München und in Frankfurt, wo unter anderem gegen die mutmaßlichen Strategen der Gruppe verhandelt wird, auch gegen Reuß. 

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Am ersten Prozesstag bleibt die Stimmung im Gerichtssaal sachlich. Allerdings kritisieren mehrere Verteidiger, dass die hochkomplexen Verhandlungen an drei verschiedenen Orten statt an einem Ort stattfinden. Das sei unfair und verstoße „gegen die Waffengleichheit“. Anders als die Generalstaatsanwaltschaft könnten Verteidigeranwälte den Aufwand schon personell nicht leisten und die parallel laufenden Prozesse vernünftig begleiten. „Die Struktur der Vereinigung kann nur durch eine gemeinsame Hauptverhandlung geklärt werden“, sagte der Verteidiger eines der Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft sieht das naturgemäß anders. 

Das Gericht hat die Entscheidung über die Anträge der Verteidiger verschoben, um das Verfahren nicht zu verzögern. 

Mindestens zwei der Angeklagten kündigten an, zur Person und zur Sache, also zu den Putschvorwürfen, auszusagen. Die meisten wollen erstmal schweigen. Auch Markus L., der auf die Polizisten geschossen haben soll. Es gilt bis zu einer möglichen Verurteilung für alle Angeklagten die Unschuldsvermutung.

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