Sie ist bis heute umstritten: Vor 15 Jahre beschloss der Bundestag die Schuldenbremse. Nur ein einziger FDP-Politiker stimmte damals für ihre Einführung: Florian Toncar. Wieso?
Herr Toncar, das Finanzministerium feiert Sie in diesen Tagen 15 Jahre Schuldenbremse. Am 29. Mai 2009 beschloss der Bundestag, sie einzuführen.
Ich erinnere mich gut. Das war ein Freitagmorgen. Und ich habe mit Ja gestimmt.
Sie waren der einzige FDP-Abgeordnete, der damals für die Einführung der Schuldenbremse gestimmt hat. Die große Mehrheit der liberalen Fraktion hat sich enthalten, drei haben dagegen gestimmt.
Das stimmt, dafür muss man sich an den Kontext erinnern. Die Schuldenbremse war ein Vorschlag, der aus der zweiten Föderalismuskommission kam. Diese Kommission sollte eigentlich die gesamten Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern entkrusten, neu ordnen und mehr Transparenz schaffen. Das ist nicht gelungen – es gab nur die Idee einer Schuldenbremse. Die FDP hat deshalb gesagt: „Das ist uns zu wenig, wir enthalten uns.“
Bei der Abstimmung habe ich mir gedacht: Wenn jetzt einmal im Leben die Chance besteht, klare Regeln zu setzen und die Verschuldung effektiv zu begrenzen, dann muss ich da mitmachen.
Nur Sie waren anderer Meinung.
Ich war damals mit 29 Jahren der jüngste Abgeordnete der FDP-Fraktion im Bundestag. Mir war finanzielle Nachhaltigkeit wichtig: nicht zu hohe Schulden aufnehmen, die Sozialsysteme nicht überlasten. Das waren die Gründe, warum ich überhaupt erst angefangen hatte, mich politisch zu engagieren. Bei der Abstimmung habe ich mir gedacht: Wenn jetzt einmal im Leben die Chance besteht, klare Regeln zu setzen und die Verschuldung effektiv zu begrenzen, dann muss ich da mitmachen – zur Not auch gegen meine Fraktion. Ich habe daher guten Gewissens mit Ja gestimmt. Und ich habe es nie bereut.
Werden Sie heute noch darauf angesprochen?
Sogar sehr oft. Wenn ich erzähle, dass ich wirklich der einzige Abgeordnete aus meiner Fraktion war, der zugestimmt hat, ist die Überraschung meist groß. Weil die FDP heute als besonders starke Verteidigerin der Schuldenbremse auftritt. Man muss aber fairerweise sagen, dass die Bedenken der anderen damals nicht falsch waren. Bis heute ist nicht klar genug geregelt, wer was finanziert: der Bund oder die Länder? Das sorgt ständig für Probleme. Und es wird eher schlimmer als besser. Wir brauchen daher weiterhin dringend eine grundlegende Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Hat sich aus Ihrer Partei denn mal jemand entschuldigt? Nach dem Motto: Du hattest recht. Wir hätten alle mit Ja stimmen sollen.
Nein. Das war aber auch nicht nötig. Es haben schon damals alle akzeptiert, dass der jüngste Abgeordnete darauf drängt, dass diese Regel wirklich kommt. Nochmal: Die FDP hat sich ja nicht enthalten, weil sie die Schuldenbremse nicht haben wollte, sondern weil ein ganz wichtiger Teil der eigentlich versprochenen Reform kaputtgeredet worden war. Aber ehrliche Anerkennung für mein Abstimmungsverhalten bekomme ich schon. Bis heute.
Die Schuldenregel hat großen Einfluss darauf, wie unser Staat funktioniert, ja sogar welches Staatsverständnis wir pflegen.
Also würden Sie jüngeren Abgeordneten raten, dass es sich manchmal lohnt, für seine Überzeugung gegen die Fraktion zu stimmen?
Grundsätzlich sollte man als Mitglied einer Fraktion immer Teamplayer sein. Aber es kann Fragen geben, die so eng mit dem eigenen politischen Lebensweg verknüpft sind, dass man notfalls auch bereit ist, anders abzustimmen als die eigene Fraktion. Für mich war und ist die Schuldenbremse persönlich eine solche grundlegende Frage. Das sehen wir doch gerade wieder bei all den Debatten, die wir dazu in der Koalition und darüber hinaus führen. Die Schuldenregel hat großen Einfluss darauf, wie unser Staat funktioniert, ja sogar welches Staatsverständnis wir pflegen. Und so etwas würde ich immer höher gewichten als andere Entscheidungen im politischen Tagesgeschäft.
Aus heutiger Sicht wirkt das Abstimmungsverhalten von damals schon sehr schräg. Inzwischen ist die FDP so etwas wie die letzte Bastion gegen eine Reform der Schuldenbremse in ihrer beschlossenen Form.
Das ist wirklich überraschend. Damals war das so nicht absehbar. Es gab mit Peer Steinbrück einen Finanzminister von der SPD, der sehr dafür gekämpft hat, dass wir klarere Regeln zur Schuldenbegrenzung bekommen. Sogar bei den Grünen, heute die härtesten Kritiker der Schuldenbremse, gab es damals einige, etwa Winfried Kretschmann, die Nachhaltigkeit nicht nur ökologisch, sondern auch finanziell definiert haben. Und man darf natürlich nicht vergessen, dass 2009 ein besonderes Jahr war.
Ein Krisenjahr.
Wegen der Finanzkrise mussten wir erhebliche Schulden aufnehmen. Für den Haushalt 2010 sah der Regierungsentwurf 80 Milliarden Euro für neue Kredite vor. 80 Milliarden! Das war damals ein unvorstellbarer Wert. Die meisten waren sich einig: Wir müssen nach der Krise die Ausgaben wieder in Einklang mit den Einnahmen bringen. Aus dieser Einsicht ist die Schuldenbremse entstanden. Und genau diese Einsicht fehlt heute. Die Gegner der Schuldenbremse tun so, als könnten wir einfach weitermachen wie bisher. Als müssten wir nur den Weihnachtsmann aus dem Schrank lassen, der mit neuen Schulden dafür sorgt, dass weiterhin alle Wünsche erfüllt werden können. Das halte ich für eine Illusion.
Kritik an der Schuldenbremse kommt aber längst nicht nur von den Grünen und der SPD. Auch die Wirtschaftsweisen haben kürzlich ein paar Vorschläge für eine Reform gemacht.
Man könnte überlegen, ob wir Kredite aus der Corona-Pandemie etwas langsamer zurückzahlen als ursprünglich geplant, sobald die Schuldenquote unter 60 Prozent gesunken ist. Ich habe aber das Gefühl, dass es einigen bei diesen Reform-Diskussionen eigentlich darum geht, die Schuldenbremse grundsätzlich aufzuweichen. Das halte ich für gefährlich. Unser Problem ist schließlich nicht, dass der Staat zu wenig Geld zur Verfügung hätte.
Der Investitionsstau in Deutschland hat strukturelle Gründe.
Wie meinen Sie das?
Der Investitionsstau in Deutschland hat strukturelle Gründe. Wir haben zum Beispiel einfach nicht die Leute, die alles gleichzeitig machen können: 400.000 Wohnungen bauen, den Gebäudebestand sanieren, Windparks und Gaskraftwerke errichten, Straße und Schiene instandhalten. Das muss ja alles von irgendjemandem geplant und gebaut werden. Aber wir haben heute nur noch rund halb so viele Azubis im Handwerk wie 1997. Eine dramatische Entwicklung. Und die ändere ich nicht, indem ich die Schuldenbremse schleife.
Sie haben die Schuldenquote schon angesprochen. Deutschland kommt trotz Pandemie-Jahren und Energiekrise mit 63,7 Prozent in 2023 schon wieder nah dran an die Vorgabe der EU von 60 Prozent. Kritiker der Schuldenbremse sagen deshalb, Deutschland lege sich unnötig ökonomische Fesseln an.
Wir sparen durch die vergleichsweise moderate Staatsverschuldung jedes Jahr viele Milliarden Euro an Zinsausgaben. Die Schuldenquote der USA zum Beispiel ist doppelt so hoch. Die USA müssen daher etwa zweieinhalb Prozent ihres jährlichen Bruttoinlandsprodukts nur für Zinsen aufwenden. Wir haben günstige Finanzierungsbedingungen und können dadurch jedes Jahr sicherlich im zweistelligen Milliardenbereich zusätzlich Geld ausgeben für Investitionen und Bildung und andere Dinge. Außerdem hängt an der deutschen Finanzkraft auch die Stabilität des Euro. Das alles dürfen wir nicht gefährden.
Wird die Schuldenbremse auch noch ihren 25. Geburtstag erleben?
Ganz sicher wird sie das. Und wenn es nach mir geht, dann bei bester Gesundheit.