Das Bundesverfassungsgericht muss entscheiden, ob das neue Wahlrecht wie geplant umgesetzt werden kann. Dabei geht es auch um die Existenz kleinerer Parteien im Parlament – und um die Macht in Deutschland.
Zwei Tage lang beugt sich Deutschlands höchstes Gericht über Klagen gegen das neue Wahlrecht. Die Entscheidung des Zweiten Senats könnte enorme Auswirkungen auf die Bundestagswahl 2025 und das parlamentarische System insgesamt haben. Die mündliche Verhandlung am Dienstag und Mittwoch findet daher unter besonderer politischer Aufmerksamkeit statt. Wir beantworten die wichtigsten Fragen und Antworten.
Worum geht es?
Beklagt wird die jüngste Reform des Bundestagswahlgesetzes, die von der Ampel-Koalition im Juni 2023 gegen den Protest der Opposition aus Union, AfD und Linke durchgesetzt worden war. Das novellierte Gesetz begrenzt die Größe des Parlaments, das aktuell 734 Mitglieder hat, auf 630 Sitze. Um dieses Ziel zu erreichen, werden mit der Bundestagswahl im kommenden Jahr alle Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft sowie sogenannte Kappungsgrenzen bei der Anzahl der Wahlkreis-Abgeordneten eingeführt. Gleichzeitig fällt die Direktmandatsklausel weg.
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Was sind Überhang- und Ausgleichsmandate?
Sie sind eine Folge des besonderen Wahlsystems in Deutschland. Die Bundesrepublik hat das im Kern praktizierte Verhältniswahlrecht mit dem zum Beispiel in den USA oder in Großbritannien gängigen Mehrheitswahlrecht kombiniert. Bei dieser personalisierten Verhältniswahl gibt es zwei Stimmen. Die Erststimme wählt den Abgeordneten im jeweiligen Wahlkreis. Gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Die Zweitstimme wählt die Parteiliste. Oft wird deshalb auch von Wahlkreisstimme und Parteistimme gesprochen.Wichtig dabei: Allein das Zweitstimmen-Resultat bestimmt die Stärke der Partei im Parlament. Das kann zu rechnerischen Differenzen mit dem Ergebnis der Erststimmen führen. Sie müssen ausgeglichen werden. Das funktionierte bisher so: Wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewann, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zustanden, dann zogen auch die überzähligen Direktkandidaten ins Parlament ein. Man spricht dann von Überhangmandaten. Die anderen Parteien erhielten dafür – mit gewissen Abstrichen – seit 2013 eine ähnliche Zahl an Ausgleichsmandaten. Damit sollte im Ergebnis die Verteilung der Sitze gemäß Zweitstimmenergebis im Wesentlichen gewahrt werden.
Und was war das Problem?
Bei den jüngeren Wahlen klafften die Ergebnisse von Erststimmen und Zweitstimmen immer deutlicher auseinander – womit sich die Zahl der Überhang- und Ausgleichsmandate stark erhöhte. Das Parlament wurde aufgebläht. So sah das alte Gesetz als Standardgröße für den Bundestag 598 Abgeordnete vor: 299 über Wahlkreise und 299 über Parteilisten. Doch im aktuellen Parlament sitzen weitere 134 Abgeordnete auf Überhang- oder Ausgleichsmandaten. Sie sollen nach dem neuen Gesetz ab 2025 automatisch wegfallen.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht, von links nach recht: Rhona Fetzer, Christine Langenfeld, Peter Müller, Doris König (Vorsitz), Sibylle Kessal-Wulf, Astrid Wallrabenstein und Thomas Offenloch im Herbst 2023 bei der Verkündung des Urteil zum Bundeswahlrecht 2020
© Uli Deck
Aber wenn es keine Überhangmandate mehr gibt: Kann es dann nicht passieren, dass ein Direktkandidat seinen Wahlkreis gewinnt – und trotzdem nicht in den Bundestag einzieht?
Ja. Je Land erhält jede Partei eine Mandatskontingent entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses. Gewinnt die Partei mehr Wahlkreise als das Mandatskontingent vorsieht, fallen nach dem neuen Recht Direktmandate weg, die besonders knapp gewonnen wurden. Damit das nicht zu häufig passiert, wurde die Gesamtzahl der Zweitstimmen-Mandate erhöht, womit die Gesamtgröße des Bundestages 630 Sitze beträgt. Es gibt also etwas Spielraum.
Wieso wurde die Direktmandatsklausel abgeschafft?
Diese Klausel regelte bislang eine Ausnahme von der 5-Prozent-Hürde. Eine Partei, die an ihr scheiterte, zog trotzdem entsprechend ihres Zweitstimmenresultats in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Wahlkreise gewonnen hatte. Nur wegen dieser Option sitzt zum Beispiel derzeit die Linkspartei im Bundestag, die 2021 drei Direktmandate gewann. Sie ist nun stark gefährdet. Aber auch die CSU, die nur in Bayern antritt, aber immer ausreichend Direktmandate gewann, könnte ohne die Direktmandatsklausel in Schwierigkeiten kommen. Im Extremfall könnte die CSU alle Direktmandate in Bayern gewinnen, aber keines davon wahrnehmen, wenn sie bei den Zweitstimmen auf den Bund gerechnet an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Die Mandate würden dann auf andere Länder verteilt, was zu einem regionalen Ungleichgewicht führte. 2021 hatte die CSU 5,2 Prozent der Zweitstimmen erreicht. Dass die Ausnahmeregelung abgeschafft wurde, begründet die Ampel mit der angeblich abgeschwächten Bedeutung der Wahlkreisstimme.
Wer hat gegen die Reform geklagt?
Es geht um zwei Normenkontrollverfahren, drei Organstreitverfahren und zwei Verfassungsbeschwerden. Geklagt haben die bayerische Staatsregierung (CSU, Freie Wähler), 195 Bundestagsabgeordnete der Unionsfraktion, die Parteien CSU und Linke sowie die frühere Linke-Fraktion – und mehr als 4000 Privatpersonen. Das Kappungssystem verletze die Mehrheitsregel und somit das grundgesetzlich fixierte Demokratieprinzip, heißt es. Wahlkreisabgeordnete dienten zudem als Gegengewicht zur dominierenden Stellung der Parteien.
Deshalb argumentieren CSU und Linke, dass ihr Recht auf Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien berührt sei. Möglich sei aber auch, die 5-Prozent-Hürde abzusenken.
Wie hoch sind die Chancen, dass das Gericht die Ampel-Gesetzgebung für verfassungswidrig erklärt?
In der jüngeren Vergangenheit hat das Bundesverfassungsgerichts das Primat des Verhältniswahlrechts betont. Dass die Zweitstimme durch die Reform sogar noch gestärkt wurde, dürften die Richter daher mehrheitlich goutieren. Andererseits wird die politische Legitimation geschwächt, wenn einige Wahlkreise keine Direktabgeordnete mehr stellen können und somit dort die Erststimmen de facto verfallen. Das Bundestagswahlgesetz könnte allerdings auch aus formalen Gründen für verfassungswidrig erklärt werden. So beanstanden mehrere Bundestagsabgeordnete, dass Art und Tempo der Novellierung ihr parlamentarischen Rechte verletzt hätten.