Wir leben im Modus konstanter Betroffenheit, überinformiert und aufgerieben vom Zwang zum Engagement. Wir sollen empathisch sein, achtsam und bitte auch vegan, dabei sind wir völlig überfordert. Zeit, sich auf eine Tugend zu besinnen, die gerade viel zu kurz kommt – Coolness.
Alle sind aufgeregt. Alle sind erschöpft. Natürlich. Die Nazis machen mobil, in Gaza schlachten sie Leute ab, in Russland hört ein Macho nicht auf, seine Größenfantasien in politische Katastrophen zu verwandeln. Und vor Ort, am Arbeitsplatz und im Privatleben, wird es auch immer enger. Multitasking. Gefühlt 5000 Emails am Tag. Die Konzerne bauen zurück, einer macht den Job für drei. Die Kinder sollen achtsam erzogen, die Beziehungen gendersensibel geführt werden. Feministisches Feingefühl ist Pflicht bei gleichzeitiger Leistungsbereitschaft auf höchstem Niveau. Geht man dann raus, in die Natur, zwecks Entspannung und Besinnung, weiß man: Das kommt demnächst auch an sein Ende. Die Umwelt: eine Drohkulisse.
Empfindsamkeit ist ein Indiz für Zivilisation. Das ist gut so. Keiner will zurück in die Vormoderne, mit vor Selbstzufriedenheit dröhnenden Männern und eingeschüchterten Frauen. Niemand hat Lust auf den Stumpfsinn von Vorvorgestern. Und niemand, der nicht mental einigermaßen intakt ist, träumt von kultureller Flurbereinigung, vom völkisch zurechtgestutzten Deutschland, in dem alle Joppe tragen, Biersuppe essen und dabei das Horst-Wessel-Lied singen.
Wir sind permanent maximal betroffen
Dass man geschockt ist von der Barbarei im Nahen Osten, versteht sich von selbst. Dass sich Entsetzen breit macht bei der Vorstellung, der mächtigste Politiker der Welt könnte demnächst ein Mann mit der Affektkontrolle eines Primaten sein: verständlich. Aber wie dieses Entsetzt-, Angefasst- und Durchdrungensein von täglichen Schreckensmeldungen nun ausgestellt und betont werden muss, das grenzt an Narzissmus.
Es gibt einen bösartigen Narzissmus der Dominanz. Und einen verletzlichen der Unterwerfung und Schwäche. Beide sind gleich manipulativ. Mit dem permanent vor sich hergetragenen Anspruch, an allen sozialen und politischen Fronten maximal empfänglich zu sein, nehmen wir uns mit heilslehrenhafter Strenge selbst in Geiselhaft. Sei erschüttert vom Leid Israels, empfinde gleichzeitig den Schmerz Palästinas. Schaff deinen Verbrennermotor ab, verstehe aber den Zorn protestierender Bauern in ihren Traktoren. Verfeinere deinen Sprachgebrauch bis in die feinsten Gendernuancen hinein, behaupte dich aber zugleich als starker Mann beziehungsweise fürsorgliche Frau in der Familie.
Nahost-Konflikt auf Social Media6.15
Auf Instagram und TikTok kann man sehen, zu welchen Stilblüten dieses Belastungsszenario führt: Beauty-Influencerinnen präsentieren sich beim Weinen, der kosmetische Trend dazu heißt „Crying Make-up“ und verhilft den Akteurinnen mit Schminktipps zu einem verheult-sensiblen Gesicht. Wenn maximales Ergriffensein zur Leitkultur aufsteigt, muss eben kosmetisch nachgeholfen werden, weil menschliche Mitfühlressourcen nun mal begrenzt, die Empfindsamkeitsansprüche des Zeitgeists aber grenzenlos sind.
Empfindsamkeit wird Erpressung, wenn sie zur kulturellen Norm erklärt wird. Im 19. Jahrhundert war der so genannte Ennui in Mode: eine Mischung aus Blasiertheit und Langeweile, mit der man der Welt signalisierte, dass sie reizlos und fad geworden war. Heute ist das Gegenteil der Fall: Wir leben im Modus konstanter Feinnervigkeit, überinformiert und aufgerieben vom Zwang zum Engagement.
Mitfühlen wird zur Fleißarbeit
Angst und Erschöpfung, Sorge und Beklemmung sind Teil einer korrekten Gesinnung geworden, entsprechend wird Mitfühlen zur Fleißarbeit. Die Verhältnisse waren schon immer anstrengend und unfair. Aber dieser neue hypermoralische Zeitgeist stellt eine Optimierungsfalle auf, in die alle mit Anlauf hineinstolpern. Sei sensibel für die Unrechtsverhältnisse, empfinde doppelt genau, das heißt die Schrecken der einen UND der anderen Seite. Nimm politisch immer den korrekten Standpunkt ein: Dann wird dein Leben gelingen.
Diese Erwartungshaltung ist nicht nur falsch, sie führt zu Hochmut und Allmachtsphantasien. Denn die alten Leistungsansprüche sind ja nicht weg. Früher war man ein erfolgreicher Manager, eine erfolgreiche Managerin. Man arbeitete 70 Stunden pro Woche, vermisste die Kinder und hatte mit 50 einen Herzinfarkt. Heute kommt zur Ausbeutung noch der moralische Maximalismus dazu. Bitte genau so viel leisten, aber dazu Yoga machen, vegan essen, meditieren. Ach ja, das Coaching nicht verpassen und die Updates zum Weltgeschehen, am besten auf diversen Kanälen. Denn wahre Empathie braucht Information. Frauen kennen diesen moralisch-sozialen Overkill schon lange, die Doppelrolle von Performance im Job und Seelsorge im Privaten wurde ihnen über Generationen aufgezwungen. Für sie spitzt sich die Lage noch weiter zu.
Im Dauerstress der Selbstdarstellung
Zum verschärften Empathiegebot kommt der Dauerstress der Selbstdarstellung. Schaffen wir es im Familienurlaub, die richtigen Insta-Reels zu posten? Die Eigenwerbung in den sozialen Medien erweitert das vermeintlich richtige Leben zum Bootcamp, das weder Auszeit noch Grenzen kennt. Es genügt nicht mehr, am Arbeitsplatz zu glänzen – das Leistungsniveau muss jetzt auch auf LinkedIn passend in Szene gesetzt werden. Schon machen Angestellte Storytelling-Kurse, damit ihre Feeds, auch die aus dem Urlaub, korrekte Haltungen vermitteln.
Dass im Schaufenster von Insta keiner mehr unattraktiv sein darf, ist ebenfalls klar. Früher gehörte zum Älterwerden das Altmodischsein dazu. Man war outdated und in stilistischer Hinsicht nicht mehr gefragt. Schlecht aussehen und peinliche Sachen sagen war keine Schande, sondern Vorrecht der Alten, die im Rückspiegel der Geschichte immer kleiner und belangloser wurden. Jetzt schleifen sich die Boomer im Fitnessstudio, um in jene Klamotten zu passen, die ihre Kinder tragen.
Enges Identitätskorsett schnürt ein
Die Jüngeren sagen dazu: cringe (von Englisch: zusammenzucken, schaudern). Wer cringe ist, erzeugt Fremdscham, seine Gegenwart ist beschämend. Scham ist eine sittliche Kategorie, sie basiert auf sozialen Verabredungen und deren Verletzung. So lässig der Begriff klingt: Er macht klar, wie gnadenlos eng die Identitätskorsette heute geschnürt werden. Schieflagen im Urteil, Ausrutscher im Denken, Patzer im gesellschaftlichen Auftritt führen zu Schuld. Sie wird mit härtester, das heißt moralischer Währung abbezahlt: mit Zerknirschung.
Zerknirscht, gestresst, überfordert, betroffen: Ein dauererregtes Frömmlertum ist enstanden, das alle im Würgegriff überzogenen Anspruchsdenkens hält. Soziales Ansehen verläuft über Bewusstseinsregeln, die auf Dauer niemand erfüllend kann. Wir können nie ausreichend mitfühlen, mitleiden, verstehen. Intuition wird zum Dogma, emotionale Intelligenz hat eine paranoide Dimension: Man ist jederzeit verdächtig, nicht ausreichend empathisch gewesen zu sein.
„Ich wünsche dir jetzt viel Kraft“: Sorry, aber diese Floskel hilft meistens gar nicht
Was hält man diesem ideologischen Trugbild einer idealen Fühl- und Denkgemeinschaft entgegen? Eine aus der Mode geratene Stilgeste könnte helfen: die Coolness. Coolness, verstanden als Abkühlung und Panzerung des Selbst in Anbetracht von Umständen, die eigentlich glühende Wut rechtfertigen würden. Emotionale Abschottung als Selbstschutz, die die eigene Versehrtheit nicht leugnet, sondern versiegelt mit Lässigkeit, Schneid und einer bewusst ausgestellten Souveränität.
Coolness ist Selbstdisziplin – eine schöne alte Tugend
Immer mal wieder tauchen Figuren im Zeitgeschehen auf, deren Charakterkühle den Erregungsfuror wohltuend herunterdrosselt. Helmut Schmidt war so jemand, seine legendäre Selbstdisziplin verbot ihm Zurschaustellungen von Ergriffenheit selbst in Extremlagen. Anders als von Empfindlichkeitsaposteln angenommen, wirkte diese Haltung nicht sedierend, sondern konsolidierend für die Gesellschaft. Karl Lagerfeld verpanzerte Trauer und inneren Schmerz mit Kaltschnäuzigkeit und Ironie. Der Effekt: Nonchalance und Würde. Heute findet man die coole Attitüde vor allem bei weiblichen Rappern: Badmómzjay und Shirin David parieren sexistische Anwürfe nicht mit Entrüstung, sondern mit Lakonie. So bleiben sie navigierfähig in einem sozialen Raum, der Irritierbarkeit mit Sensibilität und Außersichsein mit Integrität verwechselt.
Wenn sich sich die Überhitzung moralischer Imperative breit macht und Gefühligkeit massenkompatibel geworden ist, kann emotionale Dissidenz rebellisch sein. Unerschütterlichkeit ist nicht mit Schmerzlosigkeit zu verwechseln, im Gegenteil: Äußere Kühle hilft in der Abwehr einer verordneten inneren Harmonie und bewahrt sich so vor der Trivialität des Empfindens.
Das beschädigte Leben wird nicht weniger beschädigt, indem man jede Kränkung zur Schau trägt oder sich fremde Blessuren aufschminkt wie ein Ehrenmal. Coolness meint einen kontrollierten Umgang mit Empathie, gerade weil sie eine kostbare Ressource ist. Ihr Mehrwert liegt im Wissen, dass sie lediglich innere Verfeinerung darstellt, nicht revoltierende Praxis. Vom exzentrischen Mitfühlen ist noch keine Geisel freigekommen, kein Soldat gerettet und kein Diktator verhindert worden. Dafür bedarf es des politischen Tuns. Auch hier empfiehlt sich ein kühler Kopf. Hat hier jemand Coolness gesagt?