Koalition und Union wollen das Verfassungsgericht vor der AfD schützen. Keine schlechte Idee, findet unser Autor. Noch besser wäre allerdings, den Ernstfall zu verhindern.
Koalition und Opposition wollen zusammenarbeiten. Das ist eine gute Nachricht. Allzu viel haben sich Ampel und Union zuletzt nicht geschenkt. Die Beziehungen leiden auch, weil sich Olaf Scholz und Friedrich Merz über das normale Konkurrenzverhältnis hinaus nicht ausstehen können, was womöglich daran liegt, dass sie sich so ähnlich sind, jedenfalls in ihrem unbeirrbaren Selbstbewusstsein.
Nun also suchen die Fraktionen trotzdem die Kooperation. Es geht darum, das Bundesverfassungsgericht durch eine Grundgesetzänderung besser zu schützen für den Fall, dass die AfD im nächsten Bundestag noch stärker vertreten sein sollte und in die Lage käme, die Wahl der Richterinnen und Richter und überhaupt die Arbeit in Karlsruhe zu beeinflussen. Mit einem Drittel der Sitze im Parlament könnte die AfD, vielleicht auch im Verbund mit anderen populistischen Parteien, die Wahl der höchsten Richter blockieren, die zur Hälfte im Bundestag mit Zweidrittelmehrheit bestimmt werden (die andere Hälfte wählt der Bundesrat). Und sollten die Rechtsextremen eines Tages in einer Koalition mit einer anderen Fraktion sogar die Mehrheit stellen, könnten sie auch wichtige Regeln für das Verfassungsgericht ändern, weil die bisher nicht im Grundgesetz stehen. Man kennt solche Versuche zur Beschneidung der unabhängigen Rechtsprechung aus anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Polen.
Den Schutz des Verfassungsgerichts zu verbessern, das empfehlen Verfassungsrechtler, ehemalige Richter und auch viele Politiker. Ich verstehe das Ansinnen, aber es lässt mir auch den Atem stocken. Denn die Möglichkeit einer Grundgesetzänderung sollte nicht davon ablenken, uns die Situation klarzumachen, von der hier ernsthaft die Rede ist: 2021 erhielt die AfD 83 der 736 Mandaten im Bundestag, also etwa elf Prozent. Ein Drittel der Sitze würde also eine Verdreifachung bedeuten. Wie bitte? Jede dritte Stimme im Bund für die AfD? Was für ein Deutschland wäre das?
Eine AfD in der Regierung hätte gravierende Folgen
Genauso beängstigend ist die Aussicht auf eine Mehrheit unter Beteiligung der AfD. Das würde bedeuten, dass die Brandmauer nicht gehalten hat, wo und mit wem auch immer. Ganz ehrlich, dann wäre das Bundesverfassungsgericht nur eines von vielen Problemen, denn die AfD säße wohl mit in der Regierung – und die Mehrheit im Bundestag könnte noch ganz andere Gesetze ändern als nur die Regeln für Karlsruhe. Egal, ob Blockadevariante oder Mehrheitsvariante: Koalition und Union reden hier über ein Land, das mit dem, das wir kennen, nichts mehr zu tun hätte.
Ein solcher Machtzuwachs für den Rechtspopulismus hätte eine Ursache zwangsläufig im politischen Scheitern der etablierten Parteien. Noch besser, als sich für alle Eventualitäten zu wappnen, wäre es deshalb, den Ernstfall möglichst zu verhindern. Einen kleinen Beitrag könnten Ampel und Union schon dadurch leisten, dass sie den Beratungen über eine Grundgesetzänderung für das oberste Gericht ein wenig Disziplin und Zurückhaltung angedeihen ließen. Aber nein, natürlich wurden auch hier schon wieder Gespräche öffentlichkeitswirksam abgebrochen, Unterlagen an die Medien durchgestochen und Schuldzuweisungen verteilt. Alles wie immer.
STERN PAID 09_2024 Fried 15.28
So tragen die Beteiligten dazu bei, den Verdruss an der Politik zu steigern, der die Verhältnisse erst schaffen könnte, für die man jetzt nach schlauen Regeln sucht. Damit aber ermutigen sie auch jene, vor denen sie das Gericht schützen wollen, in ihrem Glauben, sie könnten das Unvorstellbare wirklich erreichen.