Der Start wurde immer wieder verschoben, doch bald bietet Lufthansa auf langen Flügen eine neue Kabine in allen Reiseklassen an. In der Business Class sorgt die Vielfalt der Sitze für Verwirrung. Und zwei Superlative sind für die Airline alles andere als vorteilhaft.
Es ist ein fast unendliche Geschichte, die sich bereits seit dem Jahre 2017 hinzieht. Damals hatte die Lufthansa erste Bilder der neuen Business Class für ihre Langstrecken-Jets veröffentlicht. Die neue Sitzgeneration sollte mit der Auslieferung der neuen Boeing 777X eingeführt werden. Doch seit der Ankündigung hat sich für die Kunden an der Ausstattung nichts geändert. Die Interkontinental-Flotte ist mit einem Produkt unterwegs, das unter Geschäftsreisenden als veraltet gilt, wie Diskussionen in Vielfliegerforen zeigen. Auch hat das Unternehmen Skytrax der Lufthansa 2022 den fünften Stern in ihrem Airline-Ranking aberkannt.
Airlines aus Asien, den USA und den Golfstaaten bieten in der Klasse für Geschäfts- und anspruchsvolle Privatreisende mehr Abschirmung zum Sitznachbarn. Statt wie bei Lufthansa die Sessel meist in einer 2-2-2er-Anordnung pro Reihe zu platzieren, hat sich bei der Konkurrenz die 1-2-1er Bestuhlung mit mehr Privatsphäre und direktem Zugang zum Gang durchgesetzt.
Lufthansa fliegt seit Jahren hinterher
Zumindest Journalisten durften bereits von der zukünftigen Kabine mehr als nur Computer-Renderings bewundern. Ende Februar 2023 wurde die Presse zum „Allegris“ -aunch-Event nach Berlin eingeladen. Mit dem Kunstwort („allegro“ – rasch, hell, freundlich) ist ein komplett neues Kabinenkonzept gemeint, das eine neue Bestuhlung für alle vier Reiseklassen der Langstreckenflugzeuge bedeutet. Die neuen Sitzgarnituren gab es bei der Präsentation erstmals zum Ansehen und Probesitzen, außerdem vollmundige Worte: Allegris „nimmt die Fluggäste mit in eine neue Ära des Reisens. Ein ganzheitliches und individuelles Erlebnis über alle Klassen hinweg.“ Zugleich wurde angekündigt, dass Allegris noch im selben Jahr abheben sollte: „Die Einführung erfolgt mit der Boeing 787-9 noch 2023″, hieß es.
Doch auch dieser Termin wurde gerissen. Bekanntlich ist die Erstauslieferung der Boeing 777X an Lufthansa, die ursprünglich für 2020 geplant war, immer noch nicht erfolgt. Jetzt ist frühestens das Jahr 2025 als Übergabe im Gespräch. Und bei der kleineren Boeing 787-9, von der die Lufthansa-Gruppe 32 Exemplare bestellt hat und die bei anderen Airlines seit 2011 im Liniendienst fliegt, gibt es neben Qualitätsproblemen bei der Produktion zusätzliche Lieferschwierigkeiten bei der Bestuhlung.
Dass bei den Sitzen für einzelne Reiseklassen auf verschiedene Hersteller zurückgegriffen wird, ist in der Luftfahrtindustrie durchaus üblich. Für Allegris liefern die deutschen Firmen Recaro die leichten Sitze in der Economy Class und ZIM die für die Premium Economy. Doch Lufthansa arbeitet in der Business Class gleich mit drei unterschiedlichen Herstellern zusammen: mit Stella in Frankreich, Collins Aerospace in den USA und Thompson in Großbritannien. Ist das Allegris-Projekt damit womöglich zu ehrgeizig?
In Zeiten von Lieferkettenproblemen sei die „Komplexität ein besonders herausfordernder Ansatz“, ordnet der Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt das Allegris-Produkt im Gespräch mit dem stern ein. „Der ultrahohe Grad an Individualisierung schlägt auch auf die Zertifizierung durch, denn es kann immer nur eine Klasse komplett zertifiziert werden.“
Die mehrmals verschobene Auslieferung fabrikneuer Boeing-Jets vom Typ 777X und 787 brachte Lufthansa in Bedrängnis. Abhilfe gelang, indem 2022 fünf für die chinesische Hainan Airlines ausgestattete Boeing 787-9 übernommen wurden. Damit kam erstmals eine verbesserte Business Class mit 1-2-1er-Sitzanordnung zum Einsatz. Diese in Frankfurt stationierten zweistrahligen Jets mit dem Spitznamen „Hainansa-Dreamliner“ haben Sessel von Collins Aerospace im Reverse-Heringsbone-Layout: Die Sitze sind nicht parallel zum Gang platziert, sondern im leichten Winkel zum Fenster oder der Kabinenmitte. Immerhin ein Schritt in eine zeitgemäßere Business Class.
Für das Drehkreuz in München wurden im selben Jahr vier Airbus A350 geleased, die zuvor für Philippine Airlines flogen und ihre moderneren 30 Sitze in der Business Class von Thompson behielten, ebenfalls im 1-2-1er-Layout. Damit begann eine Verjüngung des Produkts, aber auch eine Verwirrung für Kunden: Nehme ich in der alten Lufthansa Business Class Platz oder in der moderneren philippinischen oder chinesischen Hardware?
Statt Vereinheitlichung demnächst Individualisierung
Mit der Einführung von Allegris wird es noch komplizierter. „Kunden sollen künftig zwischen zwölf Sitzoptionen wählen können“, sagte Heiko Reitz, der Chief Commercial Officer der Lufthansa, dem Fachmagazin „FVW“, allein sieben verschiedene in der Business Class. Dazu gehören unter anderem Sitze mit extra langer Liegefläche von 2,20 Metern, Fensterplätze mit mehr Privatsphäre, Doppelsitze mit versenkbarer Mittelkonsole für Paare sowie Einzel- und Doppelsuiten. Wie schon die „Thron“-Einzelsitze bei Swiss werden dafür allerdings Zuschläge kassiert werden, deren Preise noch nicht feststehen. Dann müssen sich auch die Reisenden der Business Class an die Aufpreispolitik der Economy Class wie bei einem Billigflieger gewöhnen.
So soll die Aufteilung der sieben verschiedenen Sitze in der Business Class aussehen
© Lufthansa
Diese Möglichkeiten wecken Begehrlichkeiten für bestimmte Sitze, die vorab gebucht werden müssen. Doch das Angebot ist begrenzt. In der Praxis dürften am Check-in-Schalter und beim Boarding die Konflikte programmiert sein. Nicht auszudenken, wenn es zu einem kurzfristigen Flugzeugtausch kommt und ein Jet mit anderer Sitzplatzkonfiguration am Gate steht. Dann beginnt auch für Statuskunden wie Frequent Traveller und Senatoren eine Verfügbarkeitslotterie.
Da sich die Umrüstungsphase einer Langstreckenflotte über Jahre hinzieht, bietet Lufthansa ihren zahlungskräftigen Kunden einen zweifelhaften Superlativ wie keine andere Airline an, nämlich zehn verschiedene Business-Class-Sessel: sieben durch Allegris, plus die alten Sitze und die in jenen Jets, die ursprünglich für Hainan und Philippine Airlines gedacht waren.
Für den Kunden noch unverständlicher wird ein Flug in den 19 Exemplaren der Boeing 747-8. Die Umrüstung soll „in mehreren Stufen erfolgen“. Erst werden die Sitze der Economy, Economy Plus und Business Class im Hauptdeck getauscht, während die Business Class im Oberdeck und die First Class im Bug erst später an der Reihe sind, „da die schmaler werdende Nase eine Sondersituation darstellt“, so die Aussage der Lufthansa.
Der stern erfuhr außerdem auf Anfrage von Lufthansa, dass die Premium Economy in diesem Flugzeugtyp zukünftig immerhin direkt hinter der Business Class und nicht wie bisher zwischen zwei Segmenten der Economy Class eingebaut wird. Allerdings werden dann die halb umgerüsteten Boeing 747-8-Jets mit zwei verschiedenen Business-Produkten in einem Flugzeug unterwegs sein. Diese Hybrid-Konstruktion dürfte für Kunden ärgerlich sein, die mit Bordkarten für die alte Business Class abgefertigt werden.
Erst spät scheint man intern bemerkt zu haben, dass die neuen Allegris-Sitze nicht in das schmalere Upper Deck des Jumbojets passen. „Es hätte in der Produktentwicklung auffallen müssen, dass man auch die technischen Rahmenbedingungen durchgeht“, wundert sich Experte Großbongardt.
Ebenso ist die neue Luxus-Klasse ein Problem, und das gleich in zweifacher Hinsicht. Die „First Class Suite Plus“ fällt viel schwerer aus und muss für den Einbau im stark gerundeten Bug des Jumbojets komplett von der Lufthansa Technik entworfen werden. Wegen der Gewichtszunahme war in der Fachpresse Ende Oktober 2023 sogar der Einbau eines Zusatztanks als Ausgleichsgewicht im Heck der Boeing 747-8 im Gespräch. Doch gegenüber dem stern dementiert Lufthansa im April 2024 die trimmkritischen Herausforderungen. „Ein Gegengewicht im Heck ist nicht erforderlich.“
Der graue Standard-Doppelsitzer in der bisherigen Business Class. Wer am Fenster sitzt, muss über die Person daneben steigen, um in den Gang zu gelangen.
© Till Bartels
In Zeiten von einer erstrebenswerten Senkung des Kerosinverbrauchs aus Kosten- und Umweltgründen wäre eine schwerere Kabinenausstattung ein Anachronismus. Einen anderen Weg hat kürzlich Finnair mit der neuen Business Class im Airbus A350 eingeschlagen: Der „Air Lounge“ genannte Sitz senkt durch weniger Mechanik und Elektrik das Gewicht im Vergleich zur Vorgängergeneration.
„Lufthansa fliegt eine Retro-Flotte“
Damit sind wir beim zweiten, alles andere als ruhmreichen Superlativ: Die Lufthansa ist auf Langstrecken mit acht verschiedenen Flugzeugtypen unterwegs: Airbus A330-300, A340-300, Airbus A340-600, Airbus A350-900, Airbus A380, Boeing 747-400, Boeing 747-8, Boeing 787-9.
Das erzeugt nicht nur gegenteilige Synergieeffekte, sondern diese „Vielfalt“ sucht weltweit seinesgleichen. Außerdem betreibt keine andere Fluggesellschaft noch so viele Jets mit vier kerosin-durstigen Triebwerken.
„Lufthansa fliegt eine Retro-Flotte“, sagt Heinrich Großbongardt. „Auch unter dem Aspekt der CO2-Minderung sind die Vierstrahler vom Typ Airbus A340 und Boeing 747-400 aus der Zeit gefallen.“ Zusammen sind es 40 Maschinen dieser älteren Baureihen. Bis auf drei haben alle anderen Airlines die Boeing 747-400 für den Passagierbetrieb längst ausgemustert.
Fast schon ein historisches Flugzeug, der reaktivierte Airbus A340-600 mit vier Triebwerken. Lufthansa betreibt die größte Flotte mit zehn Exemplaren, mehr als die von Sanktionen betroffenen Airlines in Venezuela und im Iran zusammen.
© Lufthansa
So ist der Airbus A340-600 nur noch bei Unternehmen im Einsatz, die einem Embargo unterliegen, wie bei der iranischen Mahan Air und der venezolanischen Conviasa. Mit der Pandemie hatte sich Lufthansa eigentlich von ihren Jets des Typs Airbus A380 und A340-600 für immer verabschiedet. Doch durch die schnell anziehende Nachfrage nach der Pandemie und die Auslieferungsprobleme bei Boeing und Triebwerksherstellern musste Lufthansa einen Teil der A380-Flotte und zehn Airbus A340-600 reaktivieren. Dabei sind für die Flottenmodernisierung längst 280 neue Flugzeuge bestellt, davon allein mehr als 100 Langstreckenjets mit Allegris-Kabine.
Kurioser Start mit Eco-Sitzen in der First Class
Die Lufthansa möchte bald wieder Premium sein und hat jetzt die Ziele genannt, die „im Mai 2024“ erstmals mit einem neuen Airbus A350 und der Allegris-Kabine angeflogen werden. „Reisende können dann mit etwas Glück auf den Verbindungen zwischen München und Vancouver (LH476/LH477) bzw. Toronto (LH494/LH495) die neue Economy Class, Premium Economy Class und Business Class erleben“, heißt es auf der Homepage.
Das Kuriose hinter der Meldung: Bereits mehrere fabrikneue Airbus A350 sind im spanischen Teruelgeparkt, weil noch Stuhlreihen fehlen. Der Einbau der zwei Einzelsitze und Doppelsuite für die First Class steht noch in den Sternen. Für diese A350-Suiten des Herstellers Collins Aerospace liegt noch keine Zertifizierung vor.
Fest steht nur, dass die Allegris-Premiere an Bord der ersten Jets vom Typ Airbus A350 mit einer Produktpanne starten wird: „Aufgrund luftfahrttechnischer Bestimmungen werden im Bereich der First Class zunächst sogenannte Hand Hold Seats eingebaut, da dieser Bereich nicht leer bleiben darf und damit sich die Crew-Mitglieder während des Flugs dort festhalten können“, erklärt Lufthanseat Heiko Reitz. „Sitzen wird dort aber niemand“. Damit fehlen der Airline auf diesen Flügen über Monate hinweg die Erträge der teuersten Tickets.
Doch was nützt die schönste neue Kabine in allen Klassen, wenn die Reisekette nicht rund läuft. Wenn sich der Flug mal wieder verspätet, der Anschluss weg ist, gestreikt wird, die Passagiere am Ziel über eine Stunde auf die Koffer warten müssen oder der Flug gestrichen wird, weil die Besatzung fehlt. Personalmangel im Cockpit war in den vergangenen Wochen ein leidiges Thema. Nichts wünschen sich Vielfliegende von einer Fluggesellschaft mehr als Verlässlichkeit und Stabilität im Flugplan.
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