Chemnitz: Ringen ums Erinnern: Deutschland bekommt ein NSU-Dokumentationszentrum

In Chemnitz entsteht ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex. Es ist ein später Sieg der Zivilgesellschaft und für die deutsche Erinnerungskultur. Doch einige Fragen bleiben vorerst offen.

Lange hat es gedauert. Vermutlich zu lange. Das lässt sich an diesem Dienstagnachmittag in Chemnitz aber niemand anmerken. Zu froh ist man, dass das ein solches Projekt nun endlich durchgezogen wird.

Hier, zehn Minuten zu Fuß vom Chemnitzer Hauptbahnhof entfernt, in einem Gebäude, das früher mal eine Kneipe und zuletzt den städtischen Energieversorger beherbergte, entsteht auf drei Stockwerken das erste Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Deutschland.

NSU Lesestück 17:41Die Verantwortlichen haben zur offiziellen Vorstellung eingeladen, auch die sächsische Justizministerin Katja Meier, der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, Thomas Krüger, und die Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Juliane Seifert, sind gekommen. Es ist eine Art Institutionalisierung des NSU-Komplexes in die deutsche Erinnerungskultur.

Finanzierung des Dokumentationszentrums ist ungeklärt

Doch das Projekt steht auf finanziell wackeligen Beinen und die Perspektive ist ungeklärt. Außerdem plant der Bund ebenfalls ein zentrales Dokumentationszentrum – allerdings anderswo. So wagt man sich in Chemnitz erst einmal nur an ein Pilotprojekt.

Im Eingangsbereich des Zentrums, das auf rund 1300 Quadratmetern entsteht und im kommenden Jahr eröffnet werden soll, läuft das Video einer Demonstration in Kassel. 2006 hatten Angehörige der Mordopfer des NSU öffentlich protestiert und sich dafür eingesetzt, dass der Staat und die Gesellschaft endlich die rassistischen Hintergründe der Tat anerkennen sollten und einen weiteren Mord verhindern müssten. Neun Menschen waren damals bereits tot, ein zehntes Mordopfer würde 2007 noch folgen. Acht Jahre lang zog der NSU ungestört mordend durchs Land, ehe das Trio sich dann 2011 selbst enttarnte.Verbotene Nazi-Vereinigungen 18.01

Nun mehr als eine Dekade später nimmt man sich einem großen Erinnerungsort in Sachsen an. In dem Bundesland, in dem das NSU-Trio jahrelang untergetaucht war.

Dass es überhaupt ein solches Zentrum geben wird, ist ein später Sieg der Zivilgesellschaft, die sich mit Initiativen wie RAA Sachsen e.V. und ASA-FF e.V. oder in der Initiative Offene Gesellschaft e.V. um die Aufarbeitung des NSU-Komplexes gekümmert hat; von den Angehörigen der NSU-Opfer einmal abgesehen. 

NSU-Trio lebte jahrelang unentdeckt in Chemnitz

In Chemnitz, wo das Trio jahrelang unentdeckt leben konnte, gab es bis dato nicht einmal einen offiziellen Gedenkort. „Diese Pilotvorhaben ist ein Ergebnis eines jahrelangen Kampfes der sächsischen Zivilgesellschaft“, sagt dann auch Khaldun al Saadi, der für die Gesamtsteuerung des Projekts zuständig ist.

Die Projektleiterin Lydia Lierke und ihr Kollege al Saadi lesen zu Beginn der Veranstaltung die zehn Namen der Mordopfer vor.

Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen mutmaßliche NSUUnterstützerin Susann E12.15Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter 

Sie sollen im Zentrum der Erinnerung stehen. Die Tochter des Ermordeten Mehmet Kubaşık, Gamze Kubaşık, mahnt in einer Audiobotschaft: „Mein Vater und die anderen Opfer sollten niemals vergessen werden.“ Und: „Es muss einen Raum geben, in dem das Recht auf Wahrheit und Aufklärung gegeben ist – etwas das mir und meiner Familie jahrelang verwehrt wurde“

Konkret soll im Zentrum im kommenden Jahr dann die Wanderausstellung „Offener Prozess“ gezeigt werden. Außerdem sind Bildungs- und Vermittlungsangebote, ein Archiv sowie ein Versammlungsort zum Gedenken an die Opfer des NSU-Terrors geplant. Noch ist von all dem nicht viel zu sehen, lediglich vier Video- und Audioinstallationen wie die über Kassel-Demo sind bereits aufgebaut.

Rechtsextremer Terror existiert bis heute

Ebenfalls entstehen soll ein Versammlungsort, wo sich Betroffene des NSU-Komplexes und andere Opfer rassistischer Gewalt vernetzen und organisieren können. Wie akut die Bedrohungslage ist, zeigen allein die Zahlen aus Sachsen. Die hiesigen Beratungsstellen haben seit 2009 weit mehr als 5000 direkt Betroffene von rechtsmotivierten Angriffen gezählt.

Die sächsische Justizministerin, Katja Meier, spricht dann auch davon, wie rechte Netzwerke in Chemnitz, die das NSU-Trio unterstützen, „teilweise bis heute bestehen“. Zwei Millionen Euro stellt Sachsen für das Pilotprojekt in Chemnitz zur Verfügung. Noch mal zwei Millionen Euro zusätzlich kommen vom Bund. An diesem Dienstag beteuern alle Beteiligten, dass man auch perspektivisch über das Jahr 2025 hinaus das Dokumentationszentrum betreiben wolle. Laut Machbarkeitsstudie aus dem vergangenen Jahr könnte ein dauerhaftes Zentrum allerdings zwischen 24 Millionen und 36 Millionen Euro kosten.

Die Finanzierung dafür aber ist völlig ungeklärt. Im Herbst wird in Sachsen gewählt und niemand weiß, ob die kommenden Machtkonstellationen weiter hinter einer ausreichend finanzierten Dokumentationsstätte stehen.

Bund plant eigenes Dokumentationszentrum

Der Bund treibt derweil sein eigenes Dokumentationszentrum voran. So soll bis 2027, spätestens aber 2030 ein zentrales Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Deutschland entstehen, das mit anderen Städten im Land verzahnt werden und drei Ziele verfolgen soll. Erstens soll es einer kritischen Aufarbeitung des NSU-Komplex, der bis heute trotz Untersuchungsausschüssen und Gerichtsverhandlungen bei Weitem nicht aufgeklärt ist, dienen. Zweitens soll das Zentrum als Ort der historisch-politischen Bildung fungieren und drittens ein würdiges Gedenken an die Opfer und die Schicksale der Angehörigen ermöglichen.

Chemnitz, das nun bereits ein Zentrum vorzuweisen hätte, kommt jedoch nicht als zentraler Standort infrage. Angehörige der NSU-Opfer hatten sich gegen einen Standort in Sachsen ausgesprochen, weil sie sich dort nicht sicher fühlen würden.

4 Jahre Hanau Hatice Akyün12:22

Bislang hat nur Nürnberg öffentlich Interesse als Standort bekundet, aber laut Personen, die mit der Sache betraut sind, noch keine Rückmeldung erhalten. Die Standortfrage soll, so heißt es aus dem Bundesinnenministerium, in Zusammenarbeit mit dem Bundestag noch in diesem Jahr geklärt werden.

Chemnitz aber werde „wichtige Impulse für das Bundesvorhaben liefern“, sagte der Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger. Was hier entstehe, sei ein Meilenstein für die weitere Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex.  

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