Gastbeitrag: Tilman Rammstedt guckt Dschungelcamp: „Ihr Rülpsen klang triumphal“

Es ist nahezu unmöglich, jemanden zum Aufgeben zu zwingen, der sich das Aufgeben schlicht verboten hat. Deshalb konnte die neue Dschungelkönigin Lucy Diakovska gar nicht anders als gewinnen – findet unser Gastautor

Tilman Rammstedt lebt als Schriftsteller in Berlin. Für seine Bücher wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis. Zuletzt erschien von ihm der Roman: „Morgen mehr“, in dem der Erzähler für seine eigene Zeugung sorgen muss.
© Carolin Saage

Da steht eine Frau mutterseelenallein auf einer Lichtung mitten im Urwald und hält sich die Hände vors Gesicht. Sie geht auf und ab, sie schüttelt den Kopf. „Leute!“, ruft sie, und immer lauter „Leute!“, aber niemand antwortet und mit jedem Rufen wirkt das Dickicht leutunseliger. Sie ruft „Mama!“ und reckt die Hände gen Himmel, die reichen nicht weit, nur einen halben Meter, für den Himmel ist das nichts. Die Frau murmelt Unverständliches, eine fremde Sprache, eine Übersetzung ist nicht notwendig. Die Frau fällt auf die Knie, sie bebt, sie fängt an zu weinen. Da tropft nichts, da kullert nichts, alles fließt aus ihren Augen und versandet im trockenen Lichtungsboden. Und die Kamera dreht nicht ab; die Uhr behauptet, es seien nur wenige Minuten, aber damit liegt sie eindeutig falsch. Also schaut man irgendwann selbst weg. Es zerreißt einfach zu sehr das Herz, diese Frau so zu sehen, so unruhig, so fassungslos, so verzweifelt. Diese Frau, Ljudmila Lijubomirowa Djakowska, bekannt als Lucy Diakovska, die gerade zur Dschungelkönigin gewählt wurde. 

Lucy Diakovska gewinnt das Dschungelcamp

Dass große Freude und große Verzweiflung einander von außen betrachtet verwirrend ähnlich sehen können, hat man schon oft erlebt. Aber wenn man Lucy Diakovska dort auf der Lichtung sieht, glaubt man zu verstehen, dass es mehr als nur eine Ähnlichkeit ist. Der Körper tut in beiden Fällen exakt dasselbe, der Puls geht hoch, die Brust schnürt ein, das Bewusstsein verengt sich, alles erscheint unwirklich, der Atem rast und stockt, bis irgendwann die Tränen endlich laufen können, und als Außenstehender braucht man unbedingt den Kontext, um zu wissen, ob man jetzt eilig den Champagner entkorken oder doch lieber zur Hilfe eilen sollte. PAID Heinz Hoenig Hommage 22.00

Bei allem Staunen wurde man das Gefühl nicht los, dass sie die ganze Zeit schummelte

Aber für diejenige, die dort nach Atem ringt und stammelt, ist der Kontext erst einmal vollkommen egal. Da ist weder Freude noch Verzweiflung. Da ist nur der Schock, und der Körper führt nun stur und professionell sein Protokoll aus. Und erst, wenn das Protokoll fertig ist, weiß man, ob es hier um ein angriffslustiges Krokodil oder um eine Würgeschlange geht, oder um zwei ausgewachsene RTL-Moderatoren, bis an die Zähne bewaffnet mit alkoholfreiem Sekt. Lucy Diakovska wurde natürlich sogar mit Letzterem spielend fertig. Ganz gleich, was man ihr während des Camps vorsetzte, sie vergrub sofort ihre Zähne darin, zermalmte es zu einer Nichtigkeit und schluckte es dann bis auf Wiedervorlage hinunter. Ihr Rülpsen klang triumphal. Und bei allem Staunen über sie wurde man dennoch das Gefühl nicht los, dass sie im Grunde die ganze Zeit schummelte. Und zwar mit dem billigen Trick, einfach die beste Dschungelcamp-Kandidatin zu sein. 

Denn es ist schwer, jemanden vor echte Probleme zu stellen, der von Herausforderungen so sehr angestachelt zu sein scheint wie Lucy Diakovska. Es ist schwer, jemanden an seine Grenzen zu bringen, der seinen festen Wohnsitz im Überschreiten angemeldet hat. Es ist nahezu unmöglich, jemanden zum Aufgeben zu zwingen, der sich das Aufgeben schlicht verboten hat. So kann ja echt jeder durchhalten. Also jeder, der es nun einmal kann. Klugen Menschen fällt es meist nicht besonders schwer, klug zu sein. Große Menschen sind auch ohne allzu viel Überwindung groß, und wenn jemand so eindeutig vor Mut, Energie und Ehrgeiz nur so strotzt wie Lucy Diakovska, kann man Star sein so viel man will, es muss einen niemals irgendwer irgendwo herausholen, und dann steht man folgerichtig am Ende ganz allein auf der Lichtung und ruft „Leute!“ STERN PAID 06-24 Dschungelcamp von Rönne17.56

Lucy hatte auf einmal nichts weiter zu tun als sich zu freuen

Man hätte ihr als Dschungelprüfung wohl schon die Aufgabe „Scheitern“ geben müssen, um ihr echte Schwierigkeiten zu bereiten. Aber das verbietet ja wieder die alte Spielverderberin Logik, also blieb nur die perfideste aller Möglichkeiten: Man ließ Lucy Diakovska einfach gewinnen. Das Ergebnis wurde verkündet, die Zweitplatzierte Leyla Lahouar weggeführt, und Lucy hatte auf einmal nichts weiter zu tun als sich zu freuen. Weit und breit gab es keinen Gegner mehr, keine Aufgabe, keinen Schweineuterus, keinen noch so kompensationsbedürftigen Bullenpenis, nicht mal ein Liebesdrama, das es zu ignorieren galt. Sie musste nichts mehr überwinden, die gesamte, unbändige Energie lief ins Leere. Kein Wunder, dass ihre Freude so haargenau wie Verzweiflung aussah. 

Dschungelprüfung „Energy“ – Lucy Diakovska muss Fisch-, Kamel-, Schweine- und Rinder-Augen auspressen und dann: runter damit!

Beim alkoholfreien Sekt versprach sie dann feierlich, uns Zuschauer als Dschungelkönigin nicht zu enttäuschen. Den Moment, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass mit diesem Amt absolut keine Aufgaben verbunden sind, hat die Kamera dann unseren zugeschnürten Herzen zuliebe zum Glück nicht mehr eingefangen. 

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