Nach Moskau-Anschlag: Terrorexperte Steinberg: „Deutschland ist ein bedeutsames Anschlagsziel“

Nach dem Anschlag bei Moskau sieht Terrorexperte Guido Steinberg auch in Deutschland eine erhöhte Bedrohungslage. Im stern spricht er über den gefährlichsten IS-Ableger – und die Rolle sozialer Medien.

Herr Steinberg, nach dem Terroranschlag bei Moskau warnt Innenministerin Nancy Faeser vor Terrorgefahr in Deutschland. Sehen Sie diese Gefahr auch?

In den letzten Jahren haben wir verhältnismäßig viele Anschlagsplanungen in Deutschland gesehen. Ich habe außerdem den Eindruck, dass nach dem 7. Oktober, also nach dem Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel, die Bereitschaft zu Gewalttaten nochmal gestiegen ist. Deswegen teile ich die Warnung der Innenministerin.

Das heißt die Anschlagsgefahr in Deutschland ist gestiegen?

Zumindest hat man den Eindruck. Dazu kommt ein wichtiger, theoretischer Aspekt: Wir sehen, dass einige der mutmaßlichen Anschlagsplanungen in Deutschland auf den „Islamischen Staat Privinz Khorasan“ (ISPK) zurückgehen sollen…

…die den Terroranschlag bei Moskau für sich reklamieren …

… und dieser nicht nur seine Propaganda gegen den Westen hochgefahren hat, sondern auch seine Anschlagstätigkeit. Erst hat der ISPK in Afghanistan gewirkt, dann in Pakistan und Iran, jetzt in Russland. Zählt man die mutmaßlichen Anschlagsplanungen in Deutschland hinzu, wird deutlich, dass sich die Bedrohungslage durch den ISPK insgesamt verschärft hat.   

Infokasten Guido Walter Steinberg

Was wissen wir über die Terrorgruppe „Islamischer Staat Provinz Khorasan“?

Der „Islamische Staat Provinz Khorosan“ ist ein Ableger des IS im Irak und Syrien und ist zu einer Art internationalen Avantgarde der Terrororganisation geworden. Was ich damit meine: Der ISPK ist der einzige IS-Ableger, der heute noch externe Operationen im Ausland plant und verübt. 

Wie ist der Ableger entstanden?

Der ISPK ist ein Zusammenschluss von Jihadisten aus Afghanistan, Pakistan und Zentralasien. Die Gruppe verbindet nicht nur die Feindschaft gegenüber dem Westen, Russland und China, sondern auch gegenüber den Taliban. Der Ableger fährt – wie der IS insgesamt – ein kompromissloses und brutales Programm gegen seine Feinde. Ihr wichtigster Feind sind die Taliban, ihren bewaffneten Kampf haben sie vor einiger Zeit auch auf Nachbarländer wie Pakistan und Iran und jetzt sogar auf das weiter entfernte Russland ausgeweitet. 

„Deutschland hat also ein Interesse daran, sich technisch besser aufzustellen“

Die Gruppe ist auch in Deutschland aktiv, laut Innenministerin Faeser geht vom ISPK derzeit die größte islamistische Bedrohung in Deutschland aus. Was macht den ISPK auch hierzulande so gefährlich? Gibt es gefestigte Strukturen?

Nein, soweit wir wissen gibt es in Deutschland keine gefestigten Strukturen des ISPK. Außerdem gibt es einige Unterschiede zwischen ihren Anschlägen in Pakistan, Iran oder Russland auf der einen Seite und den mutmaßlichen Planungen in Westeuropa auf der anderen. Der wichtigste Unterschied: Der IS hat hier kein eigenes Personal. Die Terrorgruppe gewinnt es hier vor allem durch virtuelle Kontaktaufnahme. 

Was bedeutet das?

Diejenigen, die für den IS in Deutschland Anschläge geplant und vorbereitet haben sollen, sind nicht vom IS in Afghanistan ausgebildet oder trainiert worden. Sie lassen sich schlicht über Social-Media-Plattformen rekrutieren. Das hat weniger starke Bindungen und weniger effektive Planungen zur Folge. Deswegen ist die Gefahr, die vom ISPK für Deutschland und Westeuropa ausgeht, geringer als etwa in Pakistan oder Russland. 

IS Video Moskau 10.57

In letzter Zeit haben wir vor allem über die Bedrohung durch Rechtsextremisten gesprochen, der IS ist in Deutschland eher aus dem Fokus geraten. Haben wir die Gefahr durch den IS unterschätzt?

Vielleicht die Politik und Öffentlichkeit, aber die Sicherheitsbehörden und die Fachwelt haben den ISPK seit Jahren auf dem Schirm. Erste Anschlagsplanungen in Deutschland hat es 2018 und 2019 gegeben, durch eine Terrorzelle in Nordrhein-Westfalen, die mit dem ISPK in Kontakt stand. Spätestens seitdem ist bekannt, dass die Organisation Anschläge auch in Deutschland verüben will – und seitdem wissen auch unsere Sicherheitsbehörden Bescheid. Was man aber schon anmerken muss, ist, dass es in der Regel nicht die deutschen Sicherheitsbehörden sind, die von Anschlagsplänen erfahren. Die erste Info kommt meistens von den Amerikanern. 

Ein Problem?

Nicht unbedingt. Der Umstand zeigt, das deutsche Sicherheitsbehörden nicht über ausreichend technische Mittel verfügen, um selbst effektiv aufzuklären. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass ein westlicher Verbündeter Informationen liefert. Allerdings zeigt sich dadurch auch unsere große Abhängigkeit in der Sicherheitspolitik von den USA. 

Muss Deutschland hier nachbessern?

Wir müssen uns schon die Frage stellen: Was wäre, wenn die USA diese Aufklärungshilfe nicht mehr leisten würden? Dass sie es nicht mehr wollen, ist eher unwahrscheinlich. Doch theoretisch könnten auch die USA mit ihrer eigenen Technik nicht mehr hinterherkommen. Das war etwa 2015 und 2016 der Fall. Die Folge waren verheerende Anschlagswellen in Europa. Deutschland hat also ein Interesse daran, sich technisch besser aufzustellen. 

Wie aktiv ist der ISPK in Deutschland?

Das ist schwer zu sagen. Es hat hierzulande mehrere tatsächliche und mutmaßliche Anschlagspläne gegeben. Die Häufung dieser Fälle zeigt aus meiner Sicht, dass Deutschland für den ISPK ein bedeutsames Anschlagsziel ist – was vor allem daran liegt, dass der Ableger hierzulande über viele Anhänger verfügt, die eine ähnliche Ideologie teilen. Konkrete Mitgliederzahlen gibt es allerdings nicht. 

Terrorgefahr in Deutschland 13.31

Was bedeutet die Bedrohungslage für die Fußball-Europameisterschaft, die diesen Sommer in Deutschland stattfindet?

Das, was wir gerade in Frankreich erleben, könnte ein Vorgeschmack auf das sein, was wir im Sommer sehen könnten. Daher teile ich die Einschätzung unserer Sicherheitsbehörden, was die hohe Bedrohungslage betrifft. 

Und was folgt daraus?

Die deutschen Behörden werden enorme Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen, um mögliche Anschlagspläne zu vereiteln. Der Angriff bei Moskau sollte uns eine Mahnung sein, dass der ISPK seine Fähigkeiten ausbaut und effektiver wird. Dazu kommt, dass eine Fußball-EM nun mal ein besonders attraktives Ziel für Terroristen ist.

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