Drei Monate vor Fußball-EM: Wie der Anschlag von Moskau die Bundesregierung vor einen Balanceakt stellt

In Frankreich steht Olympia vor der Tür, und die Regierung erhöht nach dem Anschlag von Moskau die Terrorwarnstufe. Deutschland richtet in nicht einmal drei Monaten die Fußball-EM aus – und sieht sich ebenfalls einer erhöhten Terrorgefahr ausgesetzt. Ein Terrorexperte stellte der Bundesregierung ein gutes Zeugnis aus.

Es herrscht höchste Wachsamkeit in Frankreich. Sichtbar ist vor allem die massive Polizeipräsenz. Nach dem Anschlag bei Moskau mit fast 140 Toten am Freitag hat die Regierung in Paris die höchste Terrorwarnstufe drei ausgerufen – die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass eine Attacke von Terroristen unmittelbar bevorstehen könnte.

Auch für Deutschland sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser der „Süddeutschen Zeitung“: „Die Gefahr durch islamistischen Terrorismus bleibt akut.“ Die SPD-Politikerin bezeichnete die Terrorgruppe „Islamischer Staat Provinz Khorosan“ (ISPK), die für den Anschlag auf das Konzerthaus in Russland verantwortlich sein soll, als „größte islamistische Bedrohung“ in Deutschland. Gleichwohl sieht sie die Sicherheitsbehörden gut aufgestellt. „Unsere Sicherheitsbehörden sind sehr wachsam und haben die Terrorgruppe schon länger im Blick.“

Verfassungsschutz warnt vor islamistischem Terror

Der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz wies unlängst ebenfalls auf die wachsende Bedrohung durch den ISPK hin. „Das Erstarken dieser Gruppe in Afghanistan verstärkt die Gefährdungslage in Deutschland“, warnte Verfassungsschutzpräsident Haldenwang bereits im vergangenen April. Aus guten Gründen, wie sich schon im letzten Juli zeigen sollte. 

Russland ISIS-K 13.43

Damals ließ die Bundesanwaltschaft sieben Männer festnehmen, Kirgisen, Tadschiken, Turkmenen, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine als Flüchtlinge nach Deutschland eingereist waren. Alle standen in Kontakt zum ISPK. Auch die vereitelten Anschlagspläne auf den Kölner Dom und den Wiener Stephansdom, die im vergangenen Dezember bekannt wurden, werden dem ISPK angelastet. Und vor ein paar Tagen erst wurden in Gera zwei Afghanen festgenommen. Einer soll sich im vergangenen Sommer von Deutschland aus dem ISPK als Mitglied angeschlossen haben und einen Anschlag in Schweden vorbereitet haben. 

Was folgt daraus? Setzt auch Deutschland seine Terrorwarnstufe herauf? Es gibt in Deutschland kein vergleichbares öffentliches Warninstrument, die Behörden sprechen stattdessen weiterhin von einer „anhaltend hohen Terrorgefahr“. Im Hintergrund jedoch werden die Sicherheitsmaßnahmen je nach aktueller Gefährdungslage angepasst – teils offen sichtbar, teils verdeckt. Zu ersterem gehört die erhöhte Präsenz von bisweilen schwer bewaffneten Sicherheitskräften an Flughäfen und Bahnhöfen. Weniger auffällig sind Maßnahmen wie Gefährderansprachen bei bekannten sogenannten relevanten Personen oder Gefährdern. Aufgrund der hohen dreistelligen Zahl ist den Sicherheitsbehörden eine lückenlose Überwachung dieser als potenziell gefährlich eingestuften Personen jedoch nicht möglich.

FS Anschläge Russland   21.30

Klar ist: Sowohl Deutschland als auch Frankreich werden in diesem Jahr im Fokus der Weltöffentlichkeit und damit auch des internationalen Terrorismus stehen. Vom 14. Juni bis zum 14. Juli wird in zehn deutschen Städten der Fußball-Europameister ausgespielt, in der französischen Hauptstadt finden vom 26. Juli bis zum 11. August die Olympischen Sommerspiele statt. „Für Großveranstaltungen in Deutschland gelten ganz unabhängig jetzt von dem schrecklichen Terroranschlag in Moskau seit Langem schon erhöhte Sicherheitsmaßnahmen, insbesondere auch zum Schutz vor islamistischen Bedrohungen“, sagte ein Sprecher Faesers am Freitag. Er versicherte: „Die Sicherheitsbehörden von Bund und Länder sind gut vorbereitet, sind gut ausgestattet.“

Verstärkte Dschihadisten-Aktivitäten in Deutschland

Angesichts der Bedrohungslage muss sich die Regierung in einem Balanceakt üben: einerseits regelmäßig auf die Gefahren hinzuweisen, auf der anderen Seite dabei aber keine Panik zu verbreiten. „Ich glaube, die Bundesregierung kriegt das aktuell ganz gut hin“, meinte Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King’s College im Deutschlandfunk.

Auch er sieht, dass sich nach einer Phase der relativen Ruhe der islamistische Terror in Europa zurückmeldet. Neumann beobachte eine „Mobilmachung von Islamisten, von Dschihadisten überall in Westeuropa“. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober habe es in Europa bereits acht versuchte dschihadistisch motivierte Anschläge gegeben, sagte Neumann im Deutschlandfunk, darunter jene von Köln. Im gesamten Jahr 2022 seien es laut Europol dagegen nur sechs gewesen. Die Erfolge im Kampf gegen den islamistischen Terror sind laut Verfassungsschutz-Präsident Haldenwang der harten Arbeit und der Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden zu verdanken.

Terrorismusforscher Neumann zufolge gibt es zurzeit eine Art Strategiewechsel unter den radikalen Islamisten – auf ihn müssen die Sicherheitsbehörden reagieren. In den vergangenen Jahren seien vorwiegend Einzeltäter aufgefallen, die sich mit dschihadistischer Propaganda im Internet aufgeladen hätten und dann zur Tat geschritten seien. Mit dem ISPK komme wieder eine organisierte Gefahr hinzu. Er sei eine „recht professionelle Gruppe“, „sehr ambitioniert und aggressiv“, die auch in der Lage sei, Netzwerke zu organisieren. Den tödlichen Beweis dafür lieferte sie in der Crocus-Konzerthalle bei Moskau.

Quellen: „Süddeutsche Zeitung“,Deutschlandfunk, Parlamentarisches Kontrollgremium des Bundestags, Nachrichtenagenturen DPA und AFP

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