Stuttgarts Stürmer vor DFB-Debüt: Mit dem Zungenschlag Podolskis: Deniz Undavs Weg vom Straßenfußballer zum Nationalspieler

Der Stürmer vom VfB Stuttgart soll für einen Stimmungsumschwung sorgen in der kriselnden Fußball-Nationalmannschaft – mit Toren und vor allem mit Worten

Wer wissen will, was für ein Typ Fußballer dieser Deniz Undav ist, muss sich nicht unbedingt ein Spiel von ihm anschauen. Es genügt, ihm zuzuhören. 

Donnerstagmittag, Presseraum des DFB-Trainingszentrums in Frankfurt. Undav nimmt oben auf dem Podium Platz, rechts neben Niclas Füllkrug. Er möge doch ein paar Worte zu Füllkrug sagen, lautet die Bitte an Undav. Stärken, Schwächen, Spielweise. Über Undavs Gesicht huscht ein Grinsen. „Fülle hat einen überragenden Torabschluss – der ist aber nicht besser als meiner“, ruft Undav. Er wartet kurz die Lacher im Raum ab und schiebt dann in Felix-Lobrecht-Manier nach: „Nein, Spaß!“ 

DFB_Kader_Kommentar 18:42

Es hat schon schüchternere Neulinge in der deutschen Nationalmannschaft gegeben. Junge Männer, die leiden auf dem Podium, weil sie um die Wucht des Titels „Nationalspieler“ wissen, und Zweifel hegen, ob das nicht alles ein paar Nummern zu groß ist für sie. Nicht so Deniz Undav. Dass es am Samstag gegen den WM-Zweiten Frankreich geht, der Kylian Mbappé in seinen Reihen hat, den derzeit weltbesten Stürmer – was bedeutet das für ihn? „Juckt mich nicht, gegen wen wir spielen.“ Nervosität ist Undav angeblich auch fremd, er sagt: „Wenn ich reinkomme, bin ich glücklich.“

Deniz Undav, 1996 geboren als Sohn türkisch-kurdischer Einwanderer in Varel, Landkreis Friesland, hat es weit gebracht mit seiner Unbekümmertheit. Mit 14 Treffern ist er aktuell bester Torjäger der Bundesliga, und sein Verein VfB Stuttgart steht auf Platz drei der Tabelle – nachdem er noch in der vergangenen Saison gegen den Abstieg gekämpft hatte.

Deniz Undav – der neue Lukas Podolski?

Das löst bei einem wie Undav die Zunge. So flapsig hat man zuletzt Lukas Podolski reden hören beim DFB. Auch er war völlig angstbefreit und beseelt von sich selbst, was Podolski beim Torschuss oftmals geholfen, abseits des Rasen hingegen weniger. Undav spielt ebenfalls so, wie er redet. Es vergeht kaum ein Bundesligaspiel, in dem er nicht von der Mittellinie abzieht, weil er glaubt, den Torwart mit einem Fernschuss überlisten zu können. Getroffen hat Undav noch nie, aber das hält ihn natürlich nicht davon ab, die Testreihe zu beenden.

Niclas Füllkrug und Deniz Undav vor dem Länderspiel gegen Frankreich
© Arne Dedert/

Wenn man Undav in diesen Tagen bei der Nationalmannschaft erlebt, bekommt man eine Idee davon, warum Bundestrainer Julian Nagelsmann ihn unbedingt mit zur EM nehmen möchte. Undav ist zwar nicht der technisch feinste Fußballer, da sind ihm Spieler wie Sané, Müller, Gündogan, Musiala oder Havertz überlegen – aber Undav schleppt nicht diesen unsichtbaren Rucksack mit sich herum wie einige dieser Nationalspieler. In diesem Rucksack stapeln sich so einige Krisen und Traumata: das Aus im EM-Achtelfinale 2021, das Scheitern nach der Vorrunde bei der WM 2022, ein düsterer Sommer 2023 mit Niederlagen gegen Polen, Kolumbien und Japan, ein schwarzer November mit Niederlagen gegen die Türkei und Österreich. 

Deniz und ich sind zwei Quatschköpfe

All das hat Undav nicht miterlebt, er kennt die Bilder lediglich aus dem Fernsehen. Jetzt soll er in der Nationalmannschaft für einen Stimmungsumschwung sorgen. „Deniz und ich sind zwei Quatschköpfe“, sagte Niclas Füllkrug am Donnerstag, „wir bringen gute Stimmung rein“. 

DFB-Elf Kader BVB15:37

Wahrscheinlich wird Undav seine Sprüche vorerst von der Ersatzbank aus aufs Spielfeld rufen müssen. Vorn in der Sturmspitze ist Füllkrug gesetzt, und dahinter streiten sich Wirtz, Musiala und Gündogan um die Zehner-Position. Genau die ist aber Undavs Lieblingsposition. In Stuttgart gibt er eine Art stürmenden Mittelfeldspieler, er kommt gern mit Tempo aus dem Zentrum oder über den Flügel, das Kleinklein eines klassischen Strafraumstürmers liegt ihm weniger. 

In der Nationalmannschaft wird Undav, Stammkraft beim VfB, ein Rollenspieler sein. Er wird eingewechselt werden, wenn es eine Partie zu drehen gilt, wenn es Kühnheit und Mut braucht, um die Wende zu schaffen. 

Nach der Reise durch die Fußballprovinz jetzt im Nationalteam

Dass Undav mal eine solche Rolle übernehmen würde in der prominentesten Mannschaft des Landes, schien lange Zeit ausgeschlossen. In der Jugendabteilung von Werder Bremen wurde er einst aussortiert und es folgte eine Reise durch die Fußball-Provinz. Undav spielte für den TSV Havelse in der Regionalliga, dann in der zweiten Mannschaft von Eintracht Braunschweig, ging nach Meppen und von dort aus in die zweite belgische Liga zu Royale Union Saint-Gilloise. Er war maßgeblich am Aufstieg des Klubs beteiligt, in insgesamt 65 Spielen schoss er 43 Tore. Das weckte das Interesse des Premier-League-Klubs Brighton & Hove Albion, der ihn zunächst zurück nach Belgien verlieh und dann an den VfB Stuttgart. Erst hier, auf dem zweiten Bildungsweg, mit 27 Jahren, reifte er zum Nationalspieler. 

Deniz Undav beim Training mit der Nationalmannschaft
© Florian Wiegand

Das lag womöglich auch daran, dass man ihn beim VfB in kein System presst. Undav darf dort ein Künstler sein, er darf seinen Impulsen und Instinkten folgen. Stuttgarts Sportdirektor Fabian Wohlgemuth sagt über ihn: „Dieser Riecher macht ihn aus, dieses Brennpunktgefühl, dieses immer vorhandene Näschen in jeder Situation.“

Ob sie Undav über die Saison beim VfB werden halten können, ist offen. Angeblich besitzen die Stuttgarter eine Kaufoption, aber auch andere Vereine sind auf Undav aufmerksam geworden in dieser Saison. Einen Mann, der ständig gute Laune hat, Selbstzweifel nicht kennt und auch noch Tore schießt, kann man schließlich immer gebrauchen.  

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