CDU-Politiker über Bürgergeld-Reform: „Wir müssen uns sprachlich von einem durchschnittlichen McKinsey-Berater unterscheiden“

Dennis Radtke, Vizechef des CDU-Arbeitnehmerflügels, verteidigt die Bürgergeld-Pläne seiner Partei – warnt aber: Die Debatte dürfe sich nicht auf Totalverweigerer konzentrieren. Andere Aspekte kämen viel zu kurz.

Herr Radtke, die CDU will das Bürgergeld in seiner jetzigen Form abschaffen. Wer Arbeit ablehnt, soll künftig keine staatliche Unterstützung mehr bekommen. Sie wollen ernsthaft manchen Menschen die gesamte Unterstützung streichen? 
Leider braucht es konkrete Änderungen beim Bürgergeld. Bei der Reform der Ampel haben sich viele Fehler eingeschlichen, die wir befürchtet hatten. Fehlanreize zum Beispiel. Die Solidarität im Sozialstaat muss denen gelten, die wollen, aber nicht können und nicht denen die können, aber nicht wollen.  

Viel Spaß mit dem Verfassungsgericht. Karlsruhe hat 2019 zu Hartz IV  geurteilt, dass Leistungen nur bis zu 30 Prozent gekürzt werden dürfen.
Das Verfassungsgericht lässt auch Spielraum für eine Kürzung auf null. Der langjährige Präsident des Bundessozialgerichts hat dies gestern bestätigt. Das ist aber nicht mein Punkt. Ich will offen sagen: Mich stört es gewaltig, dass sich die ganze Debatte nur um Totalverweigerer dreht. Ja, eine Gruppe, die alle ärgert. Aber auch eine Gruppe, die wir nicht mal quantifizieren können. Totalverweigerer sind nur ein kleiner Aspekt von ganz vielen im Umgang mit Arbeitslosigkeit.

Zur Person Radtke

Ihre Partei hat den Fokus selbst auf dieses Thema gelegt.
Das mag sein. Wenn man das so hervorhebt, richten alle ihren Scheinwerfer darauf. Ich finde das schade. Im Beschlusspapier des CDU-Bundesvorstands stehen wichtige Forderungen. Zum Beispiel, dass wir einen besseren Betreuungsschlüssel brauchen, damit ein Sachbearbeiter mehr Zeit hat, Arbeitssuchende in ihrem Alltag zu unterstützen. Aber ein ganz wichtiger Aspekt fehlt. 

Und der wäre?
Mehr als 20 Prozent der Bürgergeld-Bezieher gehen arbeiten. Das sind die sogenannten Aufstocker. Was tun wir für die?  Wir wollen schließlich nicht nur arbeitslose Menschen aus dem Bürgergeld rausholen. Unser Anspruch muss doch sein, dass jede und jeder von Vollzeitarbeit leben kann. 

Wie sollte sich die CDU bei diesem Thema positionieren?
Ich habe Hochachtung vor jedem, der Vollzeit arbeitet, obwohl es nicht fürs Leben reicht. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Tarifbindung signifikant steigt. Allein in NRW haben wir 1,8 Millionen Menschen, die weniger als 13,08 Euro pro Stunde verdienen. Das ist eine gewaltige Zahl. Man kann diesen riesigen Niedriglohnsektor nicht einfach einseitig als große Errungenschaft abfeiern. Der führt zu großen Problemen bei der Rente und eben auch beim Aufstocken. Wie gehen wir damit um? Wir müssen diesen Menschen eine Perspektive geben.

CDU-Spitze verabschiedet Pläne zum Umbau des Bürgergelds

Nach der verlorenen Bundestagswahl 2021 lautete die interne Analyse, die CDU habe die Sozialpolitik zu wenig beachtet. Hat die Partei daraus nichts gelernt?
Da ist noch viel Luft nach oben. Nochmal: Ich finde es richtig, dass wir zum Bürgergeld konkrete Änderungen vorschlagen – inklusive eines neuen Namens. Aber das füllt jetzt nicht sofort alle Leerstellen in unserem sozialen Profil. Welche Entlastungen bieten wir für kleine und mittlere Einkommen an, damit sich Arbeit für diese Menschen dauerhaft wirklich lohnt? Beim Lohnabstandsgebot können wir ja nicht nur von oben herab auf die Bürgergeldempfänger schauen. Da brauchen wir eine 360-Grad-Betrachtung. 

Wie meinen Sie das?
Wir müssen uns fragen: Was können wir tun, um Arbeit in unteren Einkommensgruppen wieder attraktiver zu machen. Das geht sicherlich nicht, nur weil man damit droht: Guck mal, den Bürgergeld-Empfängern gehen wir jetzt richtig ans Leder! Das kann nicht ernsthaft die Botschaft sein. Das entlastet niemanden auch nur um einen Cent. Dabei haben wir als CDU bei der hart arbeitenden Bevölkerung noch riesige Potenziale. Die SPD ist von einer Arbeiterpartei zur Bürgergeld-Partei mutiert. Die Genossen haben nichts im Angebot für diejenigen, die wegen der explodierenden Preise kaum über die Runden kommen. Für diese Menschen muss die CDU der Anwalt sein.

Die Union offensichtlich ja auch nicht.
Wir müssen alles tun, um diese Leerstelle zu besetzen. Da haben wir noch einen Weg zu gehen. Und das fängt bei der Frage an, was man in den Mittelpunkt der Debatte stellt. Die Schlagzeile in der „Bild“-Zeitung zu unserem Plan lautete „Nie mehr Stütze für faule Arbeitslose“ – ernsthaft? Wir müssen deutlicher machen: Wir sind eine Volkspartei der Mitte mit einer starken christlich-sozialen Wurzel. Und wir müssen uns in der Sprache von einem durchschnittlichen McKinsey-Berater unterscheiden. Es kommt nicht nur darauf an, was man sagt, sondern wie man es sagt.

Klingt fast so, als erleide die CDU einen Rückfall ins Jahr 2003, als die Partei auf ihrem Leipziger Parteitag ein stramm neoliberales Programm beschloss. 
Nein. Damals wurde an den Grundfesten des Sozialstaats gerüttelt. Das sehe ich heute nicht. Es gibt kein Revival von 2003. 

Nobert Blüm könnte also – abgesehen von ein paar Verbesserungsvorschlägen – ganz gut mit dem neuen Kurs der Merz-Linnemann-CDU Leben?
Absolut. Blüm war kein Apologet des Hängematten-Sozialstaats. Für ihn ging es um Entlastungen für alle, die arbeiten. Und um die Frage: Was müssen wir tun, um für Arbeitslose Teilhabe zu organisieren? Das gehört zu unserem christdemokratischen Menschenbild. Wir glauben nicht daran, dass es den Menschen am besten geht, wenn sie vom Staat abhängig sind. Jeder soll für sich selbst sorgen können. Auf diesem Weg brauchen manche Unterstützung. Wir dürfen nicht vergessen, dass Arbeitslosigkeit etwas mit den Menschen macht. Etwa 20 Prozent leiden unter psychischen Erkrankungen. Das ist nicht bloß ein Vermittlungshemmnis, das ist in erste Linie ein Drama für jeden Einzelnen.

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