Kolumne Nahost: Der Extremismus der Westdeutschen – oder: die Einheit in den Köpfen

Eine Studie stellt einen höheren Antisemitismus in Westdeutschland fest. Doch auch im 35. Jahr der Wiedervereinigung wird hauptsächlich darüber geredet, wie extrem doch die Ostdeutschen seien.

Es war zur Jahrtausendwende, und ich frisch angestellt bei einer früheren SED-Bezirkszeitung. Der Osten der Republik, zu dem einst in Jalta auch mein kleines Bundesland Thüringen gewürfelt worden war, hatte ein eher bewegtes Jahrzehnt hinter sich, mit einem chaotischen Nebeneinander von Aufbau und Abbau, Massenarbeitslosigkeit und Karriereschüben, Deindustrialisierung und Immobilienboom. Die Soziologen nannten es euphemistisch Transformation.

Die Gesellschaft teilte sich in Gewinner und Verlierer, der Exodus in den Westen hielt an. Die Stimmung war ungut, oft aggressiv; die einstige DDR-Staatspartei, die jetzt PDS hieß, wurde von einem Fünftel der Wähler favorisiert. Gleichzeitig wurden Ausländer von Neonazis durch die Vorstädte gejagt, Flüchtlingsheime brannten.   

Die ganz überwiegend westlich sozialisierten Entscheidungsträger in der nigelnagelneuen Bundeshauptstadt Berlin wirkten ratlos und auch etwas eingeschnappt. Hatte man nicht Abermilliarden von der schönen D-Mark über dem Osten abgeworfen? Wie bitte war dieser Undank nur zu erklären?

Nahost Martin Debes

Am 20. April 2000 prallten zwei Brandsätze an die Rückseite der Erfurter Synagoge, wo der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde und ein Rabbiner lebten. Einer der beiden Molotowcocktails verfehlte ein Fenster nur knapp.

Die Polizei fand am Tatort einen Zettel: „Dieser Anschlag basiert auf rein antisemitischer Ebene! Wir grüßen den Verfassungsschutz Gotha. Heil Hitler. Die Scheitelträger.“

Die Aufregung war maximal. Es gab Mahnwachen und Demonstrationen, während der aus Rheinland-Pfalz importierte Ministerpräsident Bernhard Vogel bei der Universität Jena eine Studie in Auftrag gab, bei einem sehr kompetenten Professor, der nur wenige Jahre zuvor meine Magisterarbeit benotet hatte, und der, wie konnte es anders sein, auch nicht aus dem sogenannten Beitrittsgebiet stammte. Kolumne Nahost 9 1200

Die Ergebnisse erschreckten. Knapp zwei Drittel der repräsentativ Befragten stimmten der Aussage ganz oder teilweise zu, dass Deutschland „durch Ausländer in gefährlichem Maß überfremdet“ sei. Rund 20 Prozent waren der Meinung, dass es richtig sei, „Ausländer mit Gewalt in Schranken zu weisen“, wobei 60 Prozent angaben, dass sie keinen Kontakt zu Ausländern besäßen – was wiederum in Anbetracht eines Migrantenanteils von 1,5 Prozent wenig überraschend war.

Der Thüringen-Monitor wurde zur ersten ostdeutschen Langzeitstudie. Die Soziologen und Politikwissenschaftler mixten Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Sozialdarwinismus, Antisemitismus und Diktatur-Affinität zu einem rechtsextremistisches „Einstellungssyndrom“. Ein Viertel der Befragten fiel in diese Kategorie. 

NSU, Pegida, AfD

An den Ergebnissen gab es nichts zu entschuldigen, zumal sie sich mit dem deckten, was ich im Alltag erlebte. Und es wurde nicht besser. Immer mehr Fragen produzierten immer mehr Daten, die das Bild von einem latent extremistischen Osten festigten. 

Später flog der NSU auf. Während ich meiner Mit-Jenenserin Beate Zschäpe in München dabei zusah, wie ihr der Prozess gemacht wurde, gründete sich Pegida in Dresden und gelangte die AfD nur ein Jahr nach ihrer Gründung zuerst in mehrere ostdeutsche Parlamente. 

Ich weiß nicht, wie viele Texte ich zu all dem schrieb. Es müssen Hunderte gewesen sein, die sich zu den Abertausenden gesellten, die andere schrieben. Doch was kaum jemand problematisierte, waren die Defizite der westdeutschen Gesellschaft. Ja, sie wurden gelegentlich auch vermessen, aber kaum vermeldet. 

Antisemitismus „signifikant höher“ in Westdeutschland

Daran musste ich denken, als ich zuletzt in der neuen Leipziger Autoritarismus-Studie las. Sie stellte fest, dass nur noch 42,3 Prozent der Deutschen mit der Funktionsweise der bundesrepublikanischen Demokratie zufrieden sind – und dass diese Minderheit im Osten nur überraschungsfreie 30 Prozent beträgt.

Doch dann fand sich auch dieser Absatz: „Bei drei der sechs Dimensionen (Diktaturbefürwortung, Sozialdarwinismus und NS-Verharmlosung) bewegen sich die Zustimmungswerte in beiden Landesteilen auf einem ähnlichen Niveau und es finden sich keine signifikanten Unterschiede.“ Mit dem interpretationsfähigen Begriff „Landesteile“ waren Ost- und Westdeutschland gemeint. 

Weiter hieß es: „Mit Blick auf die Dimension Antisemitismus zeigt sich, dass der Anteil an manifesten antisemitisch Eingestellten in Westdeutschland signifikant höher ist als im Osten.“ Umgekehrt sei wiederum die Ausländerfeindlichkeit im Osten deutlich stärker ausgeprägt.

Nun höre ich schon jene, die sagen, dass im Westen mehr Muslime lebten, und somit der Antisemitismus eher eingewandert sei. Doch auch das wäre nur ein Schutzargument, und ein unangenehm konnotiertes noch dazu. Kolumne Nahost DDR 12.02

Befragt wurden etwa 3000 Menschen, die, wie die Forscher im Titel ihres Papiers formulierten, „im Ressentiment vereint“ wirkten. Ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“ besäßen jeweils 4,5 Prozent der Westdeutschen und der Ostdeutschen.

In der „Zeit“ verwies Jana Hensel zuletzt zu Recht darauf, dass die gängige Erzählung vom rückständigen Osten und aufgeklärten Westen noch nie stimmte. Dasselbe gilt für die Annahme, die den besonderen Erfolg von AfD oder BSW in den ostdeutschen Ländern größtenteils oder sogar ganz auf extreme und autoritäre Einstellungen zurückführt.

Dabei gibt es nichts zu relativieren. Nichts an den autoritären, völkischen und xenophoben Einstellungen einer großen Minderheit der Ostdeutschen. Nichts am NSU und selbsternannten „sächsischen Separatisten“ – und nichts am Zulauf für einen zugereisten Rechtsextremisten wie Björn Höcke.

Aber es sollte endlich ebenso intensiv darüber diskutiert werden, wie die gemeine Westfälin oder der gemeine Bayer denkt. Im 35. Jahr der Einheit wäre das mal fällig.

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