Spitzenkandidatur: Özdemir auf den Spuren seiner Vergangenheit

Zwar tourt er seit Monaten viel durchs Land, aber nun steht er unter besonderer Beobachtung: Cem Özdemir will Ministerpräsident werden. Im Kreis Reutlingen begibt er sich auf die Spuren seiner Jugend.

Wenn man ihn so sieht, wie er in der ganzen politischen Gemengelage ein paar Kindern vorliest, dann fällt es schwer, nicht alle Sätze und Regungen von Cem Özdemir abzuklopfen auf seine Tauglichkeit zum künftigen Landesvater. Und es fällt schwer, nicht an einen sehr verfrühten Wahlkampf zu denken. Schließlich will Özdemir Ministerpräsident werden, das hat er erst vor wenigen Tagen offiziell verkündet – noch ist der 58-Jährige Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Und bis zur Landtagswahl im Frühjahr 2026 ist es noch eine ganze Weile hin. 

Ortstermin, 11.58 Uhr, Reutlingen: Özdemir besucht das Kinderhaus, in dem er vor vielen Jahren einen Teil seiner Ausbildung zum Erzieher absolvierte, lange vor seiner Politikerkarriere. Der Minister schüttelt Hände, spricht mit den Erzieherinnen über Personalmangel, liest ein paar Kindern aus einem Buch vor, „Die Streithörnchen“ lautet der Titel. 

Sprüche auf Kosten der Ampel

Im Kindergarten macht Özdemir auch auf Kosten der Ampel einen Gag. Es gebe in einem Kindergarten „unterschiedliche Bedürfnisse, die einen weinen, wollen getröstet werden, die anderen müssen aufs Klo, wieder andere wollen, dass man was vorliest, andere haben Hunger, haben Durst“, sagt der Grünen-Politiker. „Das stählt für eine Koalition mit drei Fraktionen, wo auch immer unterschiedlichste Bedürfnisse sind – immer schön ruhig bleiben, wenn die anderen irgendwie ausrasten.“

Er gibt sich bürgernah, als einer aus dem Volk, erinnert immer wieder daran, dass er sich viel erarbeiten musste, nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde. Oft habe er gehört, dass er Dinge nicht erreichen könne, er habe es trotzdem geschafft. Das führt Özdemir auch als Argument an, warum er trotz miserabler Umfragewerte für die Grünen ins Rennen im Ländle geht – ohne Rückfahrkarte nach Berlin. Die Bundespolitik wolle er danach sein lassen, so viel machte er schon klar.

Ob das alles schon Wahlkampf sei, die Frage blockt er natürlich ab, da ist Özdemir Profi genug. „Ich bin erst mal Bundesminister und bleibe das“, sagt er draußen vor dem Spielplatz. Er habe immerhin noch ein Jahr in Berlin zu tun und nehme seinen Job sehr ernst. Und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wolle schließlich bis zum letzten Tag im Amt bleiben, sagt Özdemir. „Es gibt auch keinen Neben-Ministerpräsidenten.“ 

Özdemir auf Zuhör-Tour 

Er selbst wolle nun erst mal durchs Land reisen, den Menschen zuhören, so der Bundesminister. „Das sammle ich, und dann werde ich, wenn es so weit ist, mein Programm präsentieren.“ Schließlich müsse ihn zunächst ein Parteitag offiziell zum Spitzenkandidaten küren.

Und doch, so scheint es, platziert der geübte Rhetoriker mit jeder Anekdote aus seiner Jugend eine Botschaft. So erzählt Özdemir in schwäbischem Dialekt, wie ungerecht er es damals als Erzieher gefunden habe, dass die Jungs die Mädchen nicht beim Burgen bauen mitspielen lassen wollten. Er habe den Mädchen dann gezeigt, wie man Katapulte baue, um die Burg „zu schleifen“. Da habe er schon die Genderrollen infrage gestellt. Das sei  „Empowerment“ gewesen, sagt der Spitzenkandidat in spe.

Spurensuche in der eigenen Vergangenheit 

An diesem Tag begibt sich Cem Özdemir, der „anatolische Schwabe“, auf die Spuren seiner eigenen Vergangenheit. Nach dem Kinderhaus besucht er seinen alten Kindergarten in seinem Geburtsort Bad Urach, bezeichnender Name: „Grünes Herz“. Özdemir schwelgt in Erinnerungen. Er berichtet, wie er sich als Kindergartenkind immer mit Geld von der Mutter an der Wurstbude eine Rote gekauft habe, für 1,60 Mark. „Ich habe in meinem Leben mehr Fleisch gegessen als manche im Erwachsenenleben“, sagt er. „Ich habe mein Soll erfüllt.“ Botschaft zwischen den Zeilen: Keine Angst, ich bin kein Grüner, der irgendwem vorschreiben will, was er zu essen hat. 

Im Anschluss schaut er in seiner ehemaligen Realschule vorbei. Dort wird ihm ein Apfelbaum gewidmet, Sorte Pinova, Özdemir gibt sich gerührt und posiert mit der Schaufel. Er sei alles andere als ein Streber damals gewesen, in der Grundschule habe er in Deutsch noch eine 5 gehabt. Aber mit Hilfe von aufgeweckten Nachhilfelehrern habe er es geschafft.

Spontanes Wortgefecht mit Bauern 

Am Abend dann der Höhepunkt der Lokaltermine, Özdemir erhält er die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt Bad Urach. Vor der Festhalle holt ihn spontan die Bundespolitik ein. Ein paar junge Bauern protestieren dort mit ihren Traktoren, sie beschweren sich über gekürzte Subventionen, um immer mehr Regeln und Auflagen. Özdemir sucht das Gespräch – und liefert sich ein hitziges Wortgefecht vor laufenden Kameras. Er habe in Brüssel erst möglich gemacht, dass etwa der Schutzstatus des Wolfes abgesenkt wurde. „Ich halte die Versprechen, die die Schwarzen geben“, ruft er. Er höre immer gern zu, aber er fordere auch die „Fairness, dass man einen nicht nach dem Parteibuch beurteilt, sondern nach dem, was man macht“. Die Distanzierung zur eigenen Partei könnte kaum deutlicher sein.

Ehrenbürgerschaft Bad Urachs 

Schließlich wird ihm die Ehrenbürgerschaft überreicht. Bürgermeister Elmar Rebmann (SPD) sagt, Özdemir, Kind türkischer Gastarbeiter, habe bewiesen, dass sich Fleiß und Wille auszahlten. Er sei damit Vorbild für viele Menschen mit Migrationshintergrund geworden. Freunde und Nachbarn hätten ihn in Bad Urach in seiner Kindheit und Jugend unter ihre Fittiche genommen, sagte Özdemir in seiner Ansprache. „Sie alle bestärkten mich, dass ich was aus meinem Leben machen kann.“ Er könne sich eventuell nur ein Amt vorstellen, das noch schöner sei – aber das hier sei ja kein Wahlkampf, betont der 58-Jährige.

Erst vor wenigen Tagen hatte Özdemir angekündigt, als Spitzenkandidat der Grünen bei der Landtagswahl 2026 kandidieren zu wollen. Nach Angaben seines Teams standen die Termine in der Region Reutlingen aber schon lange fest. Aber für einen Politiker ist ja irgendwie immer Wahlkampf.

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