Superwahljahr 2024: Oxford-Professor Ben Ansell: „Eine Rückkehr zur demokratischen Weltordnung wird es nicht geben“

Der renommierte britische Politologe über die Gefahr der Manipulation im Superwahljahr 2024, den Unterschied zwischen Trump und Putin, einen drohenden Rechtsruck in Europa und was Politik mit einer Zahnpastatube zu tun hat. 

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Professor Ansell, in mehr als 60 Ländern wird dieses Jahr gewählt, darunter in vielen Demokratien. Wird die Welt am Ende des Jahres ein paar weniger davon haben? 

Wenn dieses Jahr die Hälfte der Menschheit an die Wahlurnen tritt, wird nur für rund zwei Milliarden von ihnen ihre Stimme wirklich Gewicht haben, denn sie werden in freien und fairen Wahlen abstimmen. Ich denke nicht, dass wir diese Demokratien verlieren werden. Aber eins ist klar: Spätestens seit dem Arabischen Frühling befinden wir uns in einer Demokratie-Flaute. Eine Rückkehr zur demokratischen Weltordnung wie am Ende des Kalten Krieges wird es nicht geben. 

Im Frühjahr wählt mit Indien auch die größte Demokratie der Welt. Wie frei und fair werden die Wahlen dort tatsächlich sein? 

Selbstverständlich wird Narendra Modi wiedergewählt werden. Es gibt viel an Modi zu kritisieren, dennoch ist Indien auch weiterhin eine Demokratie und wird es bleiben, zumal die Opposition sich inzwischen besser organisiert hat und Indien langsam auf dem Weg zurück in ein natürlicheres Zwei-Parteien-System ist.  

Indiens Premierminister Narendra Modi befindet sich derzeit im Wahlkampf – er hat gute Chancen, im Amt zu verbleiben.
© Noah Seelam

Die Welt blickt derzeit ungläubig auf die USA, wo eine mögliche Rückkehr von  Donald Trump  ins Weiße Haus droht. Hat die Politik in den USA versagt?  

Politik kann chaotisch sein und ärgerlich, und dennoch ist sie besser als jede Alternative. Populisten wie Trump präsentieren sich als Anti-Establishment-Figuren, als starke Männer oder Frauen, die „den Sumpf trockenlegen“, mit der Politik aufräumen wollen. Für jene Wähler, die das ewige Hin und Her von Politik als frustrierend empfinden, ist das sehr attraktiv, Trump nutzt das geschickt. Doch was wäre die Alternative zur Realpolitik, zu Meinungsunterschieden und oft unbefriedigenden Kompromissen zwischen persönlichen Interessen und dem Wohl der Gesellschaft? Die Diktatur der Märkte? Eine von Technologie-Riesen regierte Welt? Eine Autokratie? Wohl kaum.  

STERN PAID Trump Möglicher Wahlsieg

Diese Verdrossenheit mit Politik und Politikern sehen wir gerade in vielen Demokratien der Welt. Wie kommt es dazu?  

Wir erleben überall ein Erstarken rechtspopulistischer Parteien – in Italien, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland. In Großbritannien ist es ähnlich, nur weniger offensichtlich als bei den europäischen Nachbarn, wo diese Parteien in den Parlamenten sitzen oder sogar die Regierung stellen. Weil im britischen Mehrheitswahlrecht nur große Parteien realistische Chancen haben, wurde die regierende Konservative Partei von innen durch Rechtspopulisten unterwandert. All diese Populisten versprechen und versprachen eine Art Ende der Politik, doch die gibt es nicht. Auch nach einem Trump-Sieg oder mit einer Georgia Meloni im Amt geht es hinterher weiter mit Politik, wie wir sehen können. Ich habe diese Analogie von der Zahnpasta-Tube: Wenn Sie an einer Stelle drücken, verschwindet die Politik zwar dort, aber sie taucht woanders wieder auf. Politik geht nicht einfach weg, wenn ein Populist  an die Macht kommt, auch wenn er genau das verspricht.  

Wenn die EU-Bürger dieses Jahr wählen gehen, dann tun sie das vor dem Hintergrund des Erstarkens rechtspopulistischer Parteien. Wie wird das den Ausgang der Europawahlen beeinflussen? Ist die Demokratie in der EU in Gefahr? 

Die Parteien im Russland-freundlichen EU-Bund Identität und Demokratie – darunter auch die AfD – werden weitere Erfolge verzeichnen können, gleichermaßen die etabliertere Fraktion Europäische Konservative und Reformer. Die Parteien des konservativen Mainstream-Blocks EVP werden versucht sein, sich mit einem der beiden Flügel zu verbünden. Dabei ist gerade eine standfeste konservative Mitte ein wichtiges Bollwerk der Demokratie. Doch wenn, so wie jetzt, diese Parteien sowohl einer Mehrheit von rechts als auch ihren Konkurrenten in der Mitte ausgesetzt sind und seit 2009 bei jeder Europawahl Sitze verlieren, dann ist die Verlockung für sie groß, weiter nach rechts zu rücken. Doch die wirkliche Gefahr für die Demokratie in Europa ist ein Wahlsieg einer Rechtsaußen-Partei in einem zweiten großen EU-Mitgliedsstaat nach Italien. Ich denke hier vor allem an Frankreich. 

Russland Nadeschdin Kandidate18.02

Auch wenn die Wahlergebnisse in Russland und im Iran vorhersagbar sein mögen, sind diese Wahlen dennoch wichtig – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Verwicklung beider Länder in Kriege und der Probleme ihrer Regierungen im eigenen Land. Was erwarten Sie in diesen Ländern? 

In beiden Ländern werden die Wahlen von den Herrschenden noch stärker als bisher eingeschränkt werden, dennoch gibt es wichtige Unterschiede.  

Und die wären? 

Im Iran spielt sich Politik im Schatten der absoluten Macht des Obersten Führers Ayatollah Chamenei und seines Wächterrats ab. 2024 stehen Parlamentswahlen an, und sie werden wie üblich ablaufen: Der Rat entscheidet alles. Er wird sein Veto gegen gemäßigte Kandidaten einlegen und nur Hardliner zur Wahl zulassen – umso mehr vor dem aktuellen Hintergrund der Aufstände der Bevölkerung im Land und des Nahost-Kriegs vor der Haustür. In der Vergangenheit zumindest gab es bei iranischen Wahlen trotz Wahlbetrugs mehr echte Konkurrenz als in Russland. Das Problem ist, dass ein Wahlerfolg dort rein symbolischen Charakter hat, denn hinterher entscheidet der ungewählte Wächterrat über fast jeden Regierungsbeschluss per Veto.  

Wladimir Putin muss sich nicht allzu viele Sorgen um das Wahlergebnis Mitte März machen. Er hat dafür gesorgt, dass ihm niemand allzu große Konkurrenz machen kann.
© Natalia Kolesnikova

Wie ist die Situation in Russland?  

Dort wird der Mann wiedergewählt werden, der selbst die Wahlgesetze macht! Putin kontrolliert sämtliche Wahlinstrumente und hat alle Konkurrenz erfolgreich ausgeschaltet, nicht zuletzt durch die Inhaftierung Alexej Nawalnys. Manche Beobachter glauben, die Wahlen seien für Putin dennoch nützlich – beispielsweise, um Popularität zu simulieren und um herauszufinden, wo im Land Unzufriedenheit herrscht. Die unterdrückt oder adressiert er dann je nach Situation. Ich vermute allerdings, angesichts des Krieges in der Ukraine sind diese Wahlen für ihn eher eine lästige Ablenkung.  

In der Ukraine hat Wolodymyr Selenskyj wegen des Kriegszustandes die für 2024 anstehenden Wahlen ausgesetzt. Halten Sie das für richtig? 

Das ist eine gute Frage, denn es gibt dafür im Grunde keinen Präzedenzfall. Nur wenige Demokratien mit mittlerem bis hohem Einkommen waren seit 1945 in einen zwischenstaatlichen Krieg verwickelt. Die USA hielten 1944 Wahlen ab, Großbritannien dagegen verschob während des Zweiten Weltkriegs seine Parlamentswahlen mit dem Ergebnis, dass das Land zwischen 1935 und 1945 nicht an die Wahlurnen trat. Die Gefahr für die Briten war damals viel direkter und existenzieller als für die US-Bürger, das gilt umso mehr für die Ukraine heute. Insofern verstehe ich also Selenskyjs Entscheidung. Die Frage ist, wie lange er den Wahltermin hinauszögern kann, sollte sich der Krieg noch länger hinziehen: Sind fünf Jahre, so wie damals in Großbritannien, in diesem Fall akzeptabel? Das wird sich erst auf lange Sicht zeigen.   

Die US-Wähler haben mit ihrer Stimme die Zukunft der Ukraine und des Nahen Ostens in der Hand, die der Nato und Europas. Doch was sie tatsächlich interessiert, ist der Preis von Lebensmitteln oder Sprit. Erwarten wir zu viel Solidarität von ihnen?  

Die Versuche, US-Wähler aus dem Ausland zu beeinflussen, waren noch nie erfolgreich. Umgekehrt funktioniert es ja auch nicht: Stellen Sie sich vor, die Republikaner würden Sie Deutsche dazu überreden wollen, die AfD zu wählen. Wenn man versucht, mit Wählern Diplomatie zu betreiben, sieht das verdächtig nach Wahlmanipulation durch Fremdstaaten aus. Die Isolationspolitik der USA ist bekanntlich nicht neu, die gab es schon in den 20er- und 30er- Jahren. Und in einem Punkt gebe ich Trump übrigens recht: Er war der erste, der endlich die ungleiche Finanzierung der Nato angesprochen hat. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es keinen rationalen Grund mehr, warum Amerika den Löwenanteil der Zahlungen für die Nato tragen sollte. Sicher war es schön für Europa, in den letzten vier Jahrzehnten die USA als Garant von Sicherheit zu haben. Spätestens seit Russlands Invasion in der Ukraine ist uns klar, dass wir Europäer selbst in unsere Verteidigung investieren müssen.  

Wie wahrscheinlich ist ein Wahlsieg von Donald Trump?  

Ich schätze seine Chancen auf bestenfalls 30 bis 40 Prozent. Nehmen Sie die Gerichtsverfahren gegen ihn, das sind alles ernsthafte Anklagen. Wenn sie noch rechtzeitig angehört werden, könnten sie seinen Wahlkampf vorzeitig beenden. Das hängt also davon ab, wie lange der Oberste Gerichtshof die Anhörung hinauszögern kann. Während seiner Amtszeit konnte Trump die höchste Rechtsinstanz des Landes mit drei neuen konservativen Richtern besetzen, dennoch erfuhr er bisher keine Sonderbehandlung von diesem reformierten Supreme Court. Und der Wirtschaft geht es gut unter Biden. Allerdings muss Trump für einen Wahlsieg nicht einmal die meisten Wählerstimmen gewinnen – er muss vor allem in den Swing States siegen. 

Kommentar Vorwahlenfarce 18.30

Wieviel Schaden könnte ein erneut gewählter Präsident Trump der US-Demokratie zufügen? 

Er könnte sie ernsthaft schädigen. Damit hat er im Grunde schon gegen Ende seiner ersten Amtszeit begonnen. Wissen Sie, 2016 reagierten viele Politikwissenschaftler etwas übertrieben auf seine Wahl – die USA fiel im Demokratie-Index, dabei wurde das Land ja nicht über Nacht undemokratischer. Sicher, die Rhetorik war furchtbar, aber praktisch änderte sich wenig. So blieb es im Grunde – bis zum 6. Januar 2021.  

Dem Tag des Anschlags auf das Kapitol.  

Mit diesem Angriff änderte sich etwas Grundlegendes in Amerikas Demokratie. Dennoch würde ich nicht so weit gehen, die USA seit 2021 als undemokratisches Land zu bezeichnen, denn die Instrumente zur Verteidigung der Demokratie funktionierten in dieser Krise: Der Vizepräsident, der Kongress, die Gerichte, und auf bundesstaatlicher Ebene beispielsweise die Staatssekretäre von Georgia und anderen Bundesstaaten reagierten schnell und richtig. Sie bestanden diesen Stresstest. Das Problem ist, dass rund ein Viertel der Amerikaner das anders sieht: Sie glauben, Trump wurde um seinen Wahlgewinn betrogen. Wenn Trump wiedergewählt wird, obwohl es ihm fast gelungen war, die demokratischen Institutionen zu zerstören, wird ihn das in seinen Absichten bestärken. 

Was bedeutet ein Trump-Wahlsieg für den Rest der Welt, vor allem für Demokratien? 

Er wird besonders Nachahmern in fragileren Demokratien Aufwind geben. Für Populisten vom Schlage eines Donald Trump in Indonesien oder Nigeria ist es viel leichter, die demokratischen Institutionen zu zerschlagen, als es für Trump in der etablierten Demokratie der USA ist. Und es wird schwerer für den Westen, demokratische Werte im Ausland zu fördern, wenn im Weißen Haus ein Populist sitzt. Das erlebte ich selbst, als ich nach einer Vortragsreihe für die BBC Fragen beantwortete. Ein Inder sagte zu mir: ‚Von Briten oder Amerikanern lasse ich mir heute nicht mehr Demokratie erklären.‘  

Schätzen Sie Trump weltweit als größte Gefahr für die Demokratie ein?  

Nein. Natürlich verfolgt die ganze Welt das politische Geschehen in den USA, nicht zuletzt, weil jeder englisch versteht. Deshalb erscheint eine erneute Trump-Kandidatur weltweit wichtiger, als sie wirklich ist – die USA wird auch nach seinem Sieg weiterhin eine Demokratie bleiben, obwohl Trump sie schwächen könnte. Am Ende heißt die größte Gefahr für die Welt nicht Trump, sondern Xi Jinping und Wladimir Putin – beides autokratische Oberhäupter von Weltmächten mit Expansionsbestrebungen. Natürlich betreiben auch die USA eine expansive Außenpolitik, aber sie ist für die Welt nicht so bedrohlich wie die von China und Russland.  

Großbritannien: 4 Jahre Brexit15.01

Wegen dieser Häufung von Wahlen in einem Jahr gibt es Bedenken in Sicherheitskreisen. Sehen Sie das auch so?  

Unbedingt. Vor allem eine mögliche zeitgleiche Wahl in den USA und in Großbritannien im Herbst besorgt Sicherheitsexperten, denn beide Länder sind wichtige Partner im westlichen Sicherheitsbündnis. Neue Regierungschefs sind immer ein Risiko, umso mehr, wenn sie sich nicht verstehen – was der Fall sein dürfte, wenn in den USA Donald Trump und im Königreich der Labour-Kandidat Keir Starmer gewinnen sollten.   

Was erwarten Sie konkret?  

Sollten die Wahlkampagnen in den beiden englischsprachigen Ländern tatsächlich zur gleichen Zeit geführt werden, könnten feindliche Staaten wie Russland oder China hier regelrechte Skaleneffekte sehen – mit anderen Worten: Zwei zum Preis von einer Wahl. Sicher, Hacking ist ein Risiko, aber vor allem wird das Ziel die Polarisierung der Bevölkerung sein. Sie werden sich auf Themen wie Einwanderung und Transrechte konzentrieren, denn die sind in den USA und Großbritannien sehr ähnlich. Hier könnten feindliche Akteure über die sozialen Medien in mehreren Ländern gleichzeitig ansetzen.  

Welche Rolle könnte Künstliche Intelligenz hier spielen? 

KI macht es leichter, große Mengen an Falschinformationen gleichzeitig und sehr gezielt zu senden, in Dimensionen, die vorher nicht denkbar waren. Ein anderes Problem sind Deepfakes. Über sie mache ich mir weniger Sorgen, denn in der derzeitigen Medienlandschaft scheint der Effekt eines Deepfakes von Rishi Sunak oder Joe Biden nicht lange zu halten und fast ausschließlich auf jene Wähler zu wirken, deren Meinung über einen Kandidaten damit ohnehin nur bestätigt wird. Übrigens sind Manipulationen durch Fakes nichts neues: Bereits 1890 ließ der US-Medientycoon William Randolph Hearst während des Spanisch-Amerikanischen Kriegs um Kuba Bilder fälschen, die angeblich Vergewaltigungen von Amerikanerinnen durch kubanische Soldaten zeigten. Wir sind also nur dem ausgesetzt, was unsere Vorfahren schon vor einem Jahrhundert erlebten, nur dass es nun vielfach multipliziert und in rasantem Tempo verbreitet wird. Und vor allem macht diese Manipulation heute nicht mehr an Grenzen Halt.

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