Meinung: Thilo Mischke hat eine Chance verdient

Thilo Mischke soll die ARD-Kultursendung „titel, thesen, temperamente“ übernehmen. Dagegen gibt es heftigen Protest. Unsere Autorin findet, die Debatte trägt autoritäre Züge.

Natürlich kann man darüber streiten, ob Thilo Mischke der richtige Mann ist für „titel, thesen, temperamente“, kurz „ttt,“ also eine der bekanntesten Kultursendungen, die die ARD ausstrahlt. Man kann und soll über alles streiten. Aber die Debatte trägt autoritäre Züge, die sich mit der Kunstfreiheit nicht vereinbaren lassen.

Thilo Mischke solle sich für sein Buch „In 80 Frauen um die Welt“ entschuldigen, fordern Kritiker und Kritikerinnen. Mischkes Buch geht angeblich zurück auf eine Wette mit Freunden, dass er es schaffen würde, um die Welt zu reisen und Sex mit 80 Frauen zu haben. „Ich fahre um die Erde, um zu vögeln. Das dürfte jeder Feministin Zornesfalten ins Gesicht knallen.“ Durchnummerieren will seine Figur Thilo (unverkennbar er selbst) die Frauen. Eine dunkelhäutige Frau fragt er, ob er rassistische Witze machen dürfe. Mit einer Asiatin diskutiert er, ob westliche Männer wirklich so beliebt unter ihnen seien – wegen der Größe ihres … 

PLUS Literatur und Winnetour Kommentar 12.05

Thilo Mischke: „Schlimmes Signal?“

Sexistisch und rassistisch sei dieses Buch, klagen unter anderem die Publizistinnen Annika Brockschmidt und Rebekka Endler. Nach der Bekanntgabe der Personalie haben sie über Nacht für ihren Podcast „Feminist Shelf Control“ eine Sendung mit den schlimmsten Mischke-Zitaten zusammengestellt. Mischke bereue seine Publikationen zwar, für den Inhalt habe er sich bisher aber nicht entschuldigt, schreiben sie. „Die Berufung von Thilo Mischke zu ,ttt‘ ist ein schlimmes Signal“, legt Endler bei dem medienkritischen Magazin „Übermedien“ nach. 

Nein, es ist ein schlimmes Signal, dass sich ein Schriftsteller für sein Buch entschuldigen soll. Es ist völlig egal, ob die Geschichte real, frei erfunden oder eine Mischung aus beiden ist. Es ist, tapfer sein, liebe Mischke-Kritiker und Kritikerinnen, Literatur, also Kunst. Und als solche genießt das Buch den Schutz der Kunstfreiheit. Sie gilt auch für schlechte Bücher. Man darf sie kritisieren, mit Worten zerreißen, aber man muss sie aushalten. Nur totalitäre Regime zensieren Kultur und Kunst, so wie in der DDR, wo Bücher vom Ministerium für Kultur genehmigt werden mussten. Geprüft wurde unter anderem, ob die politische Aussage des Buches genehm war. 

Thilo Mischke hat eigenen Angaben zufolge inzwischen dafür gesorgt, dass das Buch nicht mehr veröffentlicht wird. Schade. Mischkes Buch – das bei Ebay inzwischen Preise um die 150 Euro erzielt – ist Aufklärung in bestem Sinne. Seit Jahrhunderten erzählen Märchen den Mädchen, dass eines Tages ein Prinz kommt, der sie wachküsst. Die Prinzessin ist mit Abstand die beliebteste Identifikationsfigur von Mädchen. Noch heute. Im Kitschroman ist es meist die arme, aber gutherzige Heldin, die am Ende einen Adeligen, einen reichen Mann oder wenigstens einen Arzt ehelicht und so für ihre Güte belohnt wird. Sei edel, hilfreich und gut, dann machst du auf dem Heiratsmarkt einen guten Schnitt und bist versorgt, ist fragwürdige Message. 

Die Ärzte räumten 1998 sehr deutlich mit diesem Klischee auf. „Er lügt, dass sich die Balken biegen. Nur um Dich ins Bett zu kriegen.“ Das Lied wurde eine der erfolgreichsten Singles der Chartgeschichte. Inzwischen spielen die Ärzte das Lied nicht mehr live. Schade. Auch das ist Aufklärung. Das Leben ist eben kein Kitschroman. Männer sind keine Prinzen. Sie wollen nicht unbedingt heiraten, es geht auch nicht immer um Liebe, sondern manchmal schlicht um Sex. „Männer sind Schweine, traue ihnen nicht, mein Kind. Sie wollen alle nur das Eine.“

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Goethe ist verantwortlich für Todesurteil

Keine Ahnung, ob mal jemand untersucht hat, welche Auswirkungen Märchen und Kitschromane auf den Werdegang von Frauen haben. Meine Vermutung: keinen sonderlich großen. Menschen sind nicht so schlicht, dass sie alles nachmachen, was ihnen vorgesetzt wird, wie die Gewaltforschung zeigt. Nur weil jemand frauenfeindliches Zeug liest, wird er noch lange nicht zum Sexisten oder Vergewaltiger. 

Verabschieden wir uns mal von der Debatte um Mischke und steigen rauf in die Abteilung der Hochkultur. Goethe war als Jurist an dem Todesurteil gegen Johanna Catharina Höhn 1783 beteiligt, wie der Germanistik-Professor Rüdiger Scholz in seinem sehr lesenswerten Buch: „Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn“ anhand alter Akten nachweist. Die Dienstmagd hatte ihr uneheliches, neugeborenes Kind in einem Anfall von Panik getötet. Goethe verarbeitete sein Ja zur Todesstrafe in dem Gedicht: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Wollen wir Goethe nun verbannen? Seine Bücher aus den Regalen schmeißen, aus Klassenzimmern, ihn nicht mehr auf die Bühne bringen? Ihn totschweigen, weil seine Haltung nicht mit dem heute geltenden Recht in Deutschland vereinbar ist? Weil er ein Sexist und Frauenfeind war?

Und was ist mit Nabokov? Seine „Lolita“ – die zur Weltliteratur gehört – kann auch als Erregungsvorlage für Pädophile gelesen werden. Als der Roman in den 1950er-Jahren erschien, wurde das Buch in Frankreich und anderen Ländern verboten. Der „Lolita-Komplex“ fand seinen Weg in die Psychoanalyse. Der Roman stand auch Pate für „Lolita“, die verführerische Kindfrau. Auch sexistisch, Lolita ist Opfer. Nabokov legte Wert darauf, „keine Moral im Schlepptau“ seines Buches verbreiten zu wollen. Trotzdem hat er ein Verbrechen analysiert, das heute leider alltäglich ist: sexueller Missbrauch. Er beschreibt ein beliebtes Muster Pädophiler, die die Mutter heiraten, um an das Kind zu kommen. So gesehen ist „Lolita“  – ob der Autor wollte oder nicht – ein Stück Aufklärung. Das Leben ist nicht politisch korrekt. Kunst bildet das ab. Das darf sie, das soll sie, das ist ihr Job. 

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Wer hat noch nie Blödsinn geredet? 

Aber zurück zu Thilo Mischke. Er hat natürlich unglaublichen Blödsinn erzählt, als er in einem Podcast sagte, dass die männliche Sexualität womöglich auf Vergewaltigung basiere. Aber es werfe den ersten Stein, der nicht schon mal unglaublichen Blödsinn von sich gegeben hat. Wie zum Beispiel Hengameh Yaghoobifarah. In einer Kolumne schrieb Yaghoobifarah 2020, Polizisten gehörten auf die Mülldeponie. Nun gehört Yaghoobifarah zu den 100 Kulturschaffenden, die einen offenen Brief an ARD-Verantwortlichen gerichtet haben und eine Zusammenarbeit mit Mischke ausschließen. 

Was in der Diskussion leider völlig untergeht: Thilo Mischke hat großartige, investigative Reportagen fürs Fernsehen gedreht. Er ist nach Afghanistan gereist, um zu zeigen, wie die Droge Heroin nach Deutschland geschmuggelt wird und wie sie das Leben vieler Menschen zerstört. Mischke wird reduziert auf sein Buch. Das ist nicht fair. Er hat eine Chance verdient. 

Übrigens: Mischkes Thilo im Buch schafft es nicht, 80 Frauen flachzulegen. Er kriegt nicht mal 20 ins Bett. Weil er nämlich die große Liebe findet. So gesehen ist sein Buch eigentlich auch ein Kitschroman. 

 

Transparenzhinweis: Thilo Mischke war in der Vergangenheit auch für den stern tätig. Die Autorin hat allerdings nie mit ihm zusammengearbeitet, kennt ihn kaum. 

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