Nach der Niederschlagung von pro-europäischen Demonstrationen in Georgien haben in der Hauptstadt Tiflis erneut tausende Menschen gegen die Regierung protestiert. Sie versammelten sich am Freitagabend vor dem Parlament und blockierten den Verkehr auf einer zentralen Straße. In der Vornacht war die Polizei gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen, die gegen die von Regierungschef Irakli Kobachidse angekündigte Verzögerung der EU-Beitrittsverhandlungen bis 2028 protestiert hatten.
Der Protest am Freitagabend wurde von einem Großaufgebot der Sicherheitskräfte begleitet. Die „selbsternannte Regierung“ der Partei Georgischer Traum tue alles, „um Georgiens Chancen auf einen EU-Beitritt zu zerstören“, sagte die 39-jährige Demonstrantin Laura Kekelidse. „Sie wissen, dass ihre autoritäre Herrschaft nicht mit einer EU-Mitgliedschaft vereinbar ist.“
Bei den Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei in der Nacht zum Freitag waren Regierungsangaben zufolge 43 Menschen festgenommen worden. Wenige Stunden zuvor war Kobachidse vom Parlament erneut im Amt bestätigt worden. Wie ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete, schlug die Polizei in Tiflis auf friedlich protestierende Teilnehmer ein. Zudem setzte sie Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer ein.
Nach Angaben des Innenministeriums wurden in der Nacht 43 Menschen „wegen Missachtung polizeilicher Anordnungen“ und Vandalismus festgenommen. 32 Polizisten seien durch die „illegalen und gewaltsamen Aktionen“ der Demonstranten verletzt worden.
Zwei Oppositionspolitikerinnen des Bündnisses für den Wandel, Elene Choschtaria und Nana Malaschchia, wurden bei den Ausschreitungen verletzt. Choschtaria erlitt einen Armbruch, Malaschchia wurde die Nase gebrochen, wie das Oppositionsbündnis erklärte. Dem georgischen Ableger des PEN Zentrums zufolge war der bekannte georgische Dichter Zviad Ratiani unter den Festgenommenen. Laut georgischen Medien wurden auch mehrere Journalisten festgenommen.
Der Europarat warf den georgischen Sicherheitskräften eine „brutale Unterdrückung“ der Demonstranten vor und forderte Georgien auf, „den europäischen Werten treu zu bleiben“.
In Georgien hat es seit der Parlamentswahl vom 26. Oktober zahlreiche Proteste von Gegnerinnen und Gegnern der Regierungspartei Georgischer Traum gegeben. Die Partei hatte laut offiziellem Wahlergebnis eine deutliche Mehrheit errungen. Die Opposition wirft ihr jedoch Wahlbetrug vor und boykottiert das neue Parlament.
Ungeachtet dessen bestätigten die Abgeordneten der Regierungspartei Kobachidse am Donnerstag im Amt. Dieser kündigte daraufhin an, den angestrebten EU-Beitritt Georgiens bis 2028 zurückzustellen.
„Wir haben beschlossen, die Frage der Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht vor Ende 2028 auf die Tagesordnung zu setzen“, sagte Kobachidse. Er sagte jedoch zu, die Umsetzung der notwendigen Reformen fortzusetzen und sicherzustellen, dass „Georgien bis 2028 besser als jedes andere Kandidatenland darauf vorbereitet sein wird, Beitrittsverhandlungen mit Brüssel aufzunehmen und 2030 Mitglied zu werden“.
Die pro-europäische Präsidentin Salome Surabischwil hatte das neue Parlament wegen der Betrugsvorwürfe als verfassungswidrig eingestuft und das Wahlergebnis vor dem Verfassungsgericht angefochten. Rechtsexperten zufolge sind die Beschlüsse des neuen Parlaments ungültig, solange das Gericht nicht über Surabischwilis Antrag entschieden hat. Etwa 90 georgische Diplomaten kritisierten ebenfalls Kobachidses Ankündigung, die weitere EU-Integration des Landes zurückzustellen.
Das Ziel des EU-Beitritts ist in der georgischen Verfassung verankert und wird laut Umfragen von 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Georgien ist seit Dezember 2023 offiziell EU-Beitrittskandidat. Seitdem hat die Moskau-freundliche Regierung aber mehrere Gesetze verabschiedet, die in Brüssel große Sorge hervorrufen. Darunter ist ein Gesetz gegen „ausländische Einflussnahme“ nach russischem Vorbild.
Die EU fror deshalb Ende Juni den Beitrittsprozess mit Georgien ein. Das Europaparlament verabschiedete am Donnerstag eine Resolution, in der das Wahlergebnis in Georgien wegen „erheblicher Unregelmäßigkeiten“ abgelehnt und eine Neuwahl gefordert wird.
Die Opposition beschuldigt die Regierung, Georgien von der EU zu entfernen und die ehemalige Sowjetrepublik wieder an Russland annähern zu wollen. Die Ukraine warf Georgien am Freitag vor, die EU-Beitrittsverhandlungen zu verzögern, um „Moskau zufrieden zu stellen“. Das Außenministerium in Kiew verurteilte auch den Einsatz „von Gewalt gegen eine friedliche Demonstration“.
Das Auswärtige Amt in Berlin teilte mit, es beobachte die Entwicklung in Georgien „mit großer Sorge“. Der EU-Beitrittsprozess ruhe de facto seit dem Frühjahr 2024, erklärte ein Sprecher am Freitag. Er betonte jedoch, die Tür bleibe geöffnet, „wenn Georgien diesen Weg wieder einschlagen will“.