Analyse: Thüringen und die Brombeer-Koalition: Wagnis mit Wagenknecht

In Thüringen bildet sich mal wieder einer besonders ungewöhnliche und volatile Koalition. Doch Hochmut ist unangebracht. Die Alternative hieße AfD – und Höcke. 

„Mut zur Verantwortung.“ So stand es auf den Monitoren, die am Freitag in einem Saal des Thüringer Landtags aufgebaut waren. Und so steht es auch auf dem 120 Seiten dicken Koalitionsvertrag, den CDU, BSW und SPD präsentierten.

Tatsächlich ist das Unterfangen nicht nur mutig, sondern waghalsig. Drei sehr unterschiedliche Parteien, von denen eine kein Jahr besteht, wollen eine Regierung bilden – und dies ohne klare Mehrheit im Parlament. 

Denn CDU, BSW und SPD kommen, wenn denn alle ihre Abgeordneten zusammenhalten, nur auf 44 von 88 Stimmen, also genauso viele wie AfD und Linke zusammen. Eine Patt-Koalition: Das gab es in Deutschland noch nicht.

Darüber hinaus ist eben einer der drei Partner das BSW: Also eine völlig neue, populistische und in Teilen obskure Partei, die im Bund von einer sich autoritär gebärdenden Vorsitzenden geführt wird. 

Hey, das ist Thüringen!

Aber hey, das ist Thüringen, das Land der politischen Sondersituationen. Der einzige linke Ministerpräsident, die einzige Minderheitsregierung ohne Tolerierung, der einzige Kurzzeit-Regierungschef ohne Regierung: In Erfurt wird schon seit Jahren herumexperimentiert.

Genau diese Erfahrungen sind ein zentraler Grund dafür, dass im Unterschied zu Sachsen, wo es sogar eine echte Mehrheit gab, die Verhandlungen in Erfurt zum Erfolg führten. Jenseits der üblichen Partikularinteressen und Machtgelüste ist hier der Konsens gewachsen, dass das Land endlich wieder ein wenig Stabilität verdient hat.  

Der andere Grund sitzt als Abgeordneter im Landtag, führt die größte Fraktion an und heißt Björn Höcke. Ohne eine Einigung, das wissen alle Beteiligten, käme es irgendwann zu wechselnden Mehrheiten mit der AfD. Ausgerechnet die Union hatte dafür in der vergangenen Wahlperiode den Beweis erbracht, indem sie mehrfach mit Höckes Fraktion Gesetze gegen die rot-rot-grüne Minderheitsregierung beschloss. Koalitionsvertrag Thüringen 17.31

Das war in der Opposition. Nun will CDU-Landeschef Mario Voigt Ministerpräsident werden. Thüringen gelte seit Jahren als „politischer Problemfall“, sagte er bei der Präsentation des Vertrags. „Das wollen wir mit dem heutigen Tag ändern.“

Doch ob das klappt, ist mindestens ungewiss. Schon jetzt kostet das Wagnis mit Wagenknecht absurde Verrenkungen. Nachdem der BSW-Chefin die von Friedenslyrik strotzende Präambel nicht genug war, wurde extra für sie weiter hinten im Vertrag noch ein Satz zu den geplanten US-Mittelstreckenwaffen eingefügt. 

Er lautet: „Eine Stationierung und deren Verwendung ohne deutsche Mitsprache sehen wir kritisch.“ Das klingt bei flüchtigem Lesen nach einer Ablehnung wie im Brandenburger Sondierungspapier. Doch dank der Einfügung „ohne deutsche Mitsprache“ distanziert sich die Koalition von etwas, das es nicht gibt und nicht vorgesehen ist. Im Ergebnis wird die Stationierung, die natürlich mit Deutschland abgestimmt ist, nicht infrage gestellt.

Die Formulierung diente allein der Gesichtswahrung Wagenknechts, die am Ende vor einer finalen Eskalation in Thüringen zurückschreckte. Denn bei ihrem Veto hätten wohl Landeschefin Katja Wolf und ihre Getreuen die Partei verlassen und die Fraktion im Landtag implodieren lassen. Das wollte die BSW-Vorsitzende im sich erhitzenden Bundestagswahlkampf dann offenkundig doch nicht riskieren. Wagenknechts Gegnerin 10.50

Und so könnte es jetzt die erste sogenannte Brombeer-Koalition geben. Nachdem Landesausschuss (CDU), Landesparteitag (BSW) und Mitgliederbefragung (SPD) absolviert sind, dürfte Voigt mit relativer Mehrheit im dritten Wahlgang zum Regierungschef gewählt werden. Dann wird das nächste Experiment beginnen.

Und ganz egal, wie es ausgehen mag: Der Rest der Republik sollte sich vielleicht diesmal seinen eingeübten Hochmut gegenüber der Thüringer Politik verkneifen. 

Im glorreichen Sachsen muss die einst allmächtige CDU eine Minderheitsregierung bilden. Im ewig sozialdemokratischen Brandenburg gibt die älteste Partei Deutschlands gerade ihre Grundwerte auf. Und sogar im Bund fehlt der Regierung zurzeit eine Mehrheit. 

Wie kürzlich ausgerechnet der bayerische Ministerpräsident in einem anderen Zusammenhang sagte: Ein bisschen Demut wäre angebracht.

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