Hausarbeiten und Examensvorbereitung erschweren es Marlene E., ihrer neuen Liebe genügend Zeit fürs dolce vita zu lassen. Zeit im Überfluss hat aber ihre attraktive Mitbewohnerin.
Hallo Frau Peirano,
ich bin 24 und studiere Jura, was echt anstrengend und zeitintensiv ist. Ich wohne seit zwei Jahren mit Bella in einer schönen WG. Bella und ich kennen uns aus der Schule. Wir sind nicht direkt befreundet, aber haben oft zusammen gekocht und führen auch deep talk. Wir hatten die Gemeinsamkeit, dass wir uns beide vor zwei Jahren zur gleichen Zeit von unseren Ex-Freunden getrennt haben und ihnen aber immer noch hinterhergetrauert haben. Bella geht auch regelmäßig mit ihrem Ex ins Bett, obwohl er längst andere Frauen hat.
Vor vier Monaten hat Bella durch Zufall über Ebay-Kleinanzeigen Yannis, einen Fotografen kennengelernt und etwas mit ihm geflirtet. Sie war aber nicht wirklich an ihm interessiert und hat mir gleich gesagt, dass sie ihn gutaussehend, aber „ein arrogantes rich kid“ findet. Er kam dann noch einmal bei uns vorbei, weil er noch ein weiteres Teil bei Bella gekauft hat. Ich habe ihm aufgemacht, da sie unterwegs war. Yannis gefiel mir sofort und wir fingen an zu flirten, er wollt meine Nummer und zwei Tage später waren wir in einer Bar und sind dann zu ihm gegangen. Als ich Bella das erzählte, hat sie große Augen gemacht.
Als er das erste Mal bei mir übernachtet hat, traf er dann auch auf Bella, was etwas merkwürdig war, weil ich das Gefühl hatte, dass da so eine Anziehung zwischen den beiden ist. Sie haben nicht direkt geflirtet, aber sie konnten die Blicke nicht voneinander lassen. Bella ist sehr attraktiv und hat eine total erotische Ausstrahlung. Die Männer stehen voll auf sie. Und dass sie da morgens in Seidenshorts und Spitzen-Top in der Küche stand und mit der Katze spielte, hat wohl Eindruck auf Yannis gemacht. Ich kann es ihm nicht verdenken … Er brachte zumindest häufiger mal das Thema auf und wollte mehr über sie wissen.
Ich musste zu dem Zeitpunkt eine Hausarbeit schreiben und fürs Examen lernen und war viel in der Bibliothek. Die Phase wird auch noch die nächsten vier Monate anhalten. Ich merke, dass Yannis gerne mehr Zeit mit mir verbringen möchte. Er machte sehr schöne Vorschläge, mal ein Wochenende in die Berge zu fahren, seine Freunde zu treffen, in eine Kunstausstellung zu gehen.
Und jedes Mal zerreißt es mich innerlich, denn ich muss so viel arbeiten und mich voll aufs Examen konzentrieren. Aber natürlich möchte ich auch einfach nur genießen, dass ich einen interessanten Mann kennengelernt habe. Ich möchte viel mehr Zeit mit ihm verbringen und das ganze Wochenende im Bett liegen, spät aufstehen, in den Tag hinein leben und schöne Dinge unternehmen. Ich mache mir Sorgen, dass er das Interesse an mir verliert, wenn ich keine Zeit habe und ihm immer absagen muss. Das lenkt mich gerade auch sehr ab und wegen der Nächte mit ihm ist meine Konzentration auch nicht die beste.
Yannis ist oft bei mir und schläft aus, wenn ich schon in der Bibliothek bin. Oder er bleibt tagsüber, weil wir abends verabredet sind, damit er nicht so viel Fahrzeit hat. Bella ist auch zu Hause und läuft da sehr freizügig herum, liegt auf der Couch oder macht ihre Yoga-Übungen im Wohnzimmer. In den letzten Wochen sind die beiden sich schon sehr viel nähergekommen und waren zusammen was essen, haben auf dem Balkon Kaffee getrunken und viel gelacht. Sie waren zusammen beim Sport, wobei es mir so verkauft wurde, als wenn sie nur zusammen dahin gefahren sind.
Ich traue Bella nicht über den Weg. Sie legt keinen Wert auf Exklusivität oder Treue, sondern findet, jeder soll machen, was er gerade will, solange es beiden Spaß macht. Sie ist auch weiterhin mit ihrem Freund ins Bett gegangen, als er gerade eine neue Beziehung begonnen hat. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie nur: Sowas spornt mich erst richtig an.
Ich habe versucht, Yannis zu sagen, dass Bella sehr egoistisch ist und viele Leute vor den Kopf stößt. Er hat nicht darauf reagiert. Ich habe ihm gesagt, dass ich es merkwürdig finde, dass er mehr Zeit mit Bella als mit mir verbringt. Er meinte nur: Du kannst ja was dran ändern und mich häufiger sehen. Und: Ist doch gut, dass ich mich hier nicht langweile, wenn du weg bist.
Ich fühle mich nicht ernst genommen. Von Bella sowieso nicht, aber auch Yannis kann nicht verstehen, dass ich mich schlecht fühle mit der Situation. Und ich komme natürlich rüber wie eine Spaßverderberin, wenn ich nicht akzeptieren kann, dass mein Freund eine schöne Zeit mit meiner Mitbewohnerin hat, während er auf mich wartet und meinetwegen in unserer Wohnung ist.
Was kann ich nur machen? Soll ich mit ihm reden? Oder mit beiden reden? Oder soll ich vielleicht gleich aufgeben und mich zurückziehen? Denn ich befürchte, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die beiden im Bett landen, wenn es nicht schon längst geschehen ist.
Viele Grüße
Marlene E.
Liebe Marlene E.,
das ist ja wirklich eine schwierige Situation, in der Sie gerade stecken! Ich kann gut nachfühlen, dass Sie sich sehr zerrissen fühlen. Auf der einen Seite haben Sie vor kurzem, nachdem Sie Ihrem Ex-Freund noch lange nachgetrauert hatten, einen interessanten Mann kennen gelernt.
Und dieser Mann, Yannis, steht gerade voll in den Startlöchern und zeigt viel Initiative: Er will mit Ihnen Zeit verbringen, wegfahren, Freunde kennenlernen, etwas unternehmen, sich die Nächte um die Ohren schlagen und in den Tag hinein leben. Ein Teil von Ihnen wünscht sich, genau das mit ihm zu teilen und sich in diese neue Beziehung hineinzustürzen. Das wäre jetzt ja auch angebracht!
Wenn Sie nicht auf der anderen Seite gerade jetzt in einer Phase wären, in der Sie für Ihre Karriere Vollgas geben müssen. Jura ist einer der anspruchsvollsten Studiengänge, die Staatsexamen sind schwer und erfordern viel Vorbereitungszeit, zudem müssen Sie auch noch eine Hausarbeit schreiben. Die meisten Jurastudent:innen, die ich in Therapie habe, haben in solchen Zeiten einen strengen Zeitplan mit wenigen Pausen, sie lernen auch am Wochenende. Das sogar über Monate. Dabei fallen viele ihrer Bedürfnisse, Interessen und auch die Interessen der Freund:innen und Partner:innen hinten runter und müssen mindestens bis nach dem Staatsexamen warten. Meist folgt dann gleich der nächste Schritt, der wieder viel Krafteinsatz erfordert: das Referendariat, die nächste Hausarbeit, der Einstieg ins Berufsleben.
Keine Zeit für die Liebe
War Ihnen das eigentlich klar, als Sie sich für diesen Studiengang entschieden haben? Wovon haben Sie geträumt, als Sie Jura studiert haben? Was für ein Berufsbild hatten Sie im Auge?
Kannten Sie praktizierende Jurist:innen, und haben Sie auch deren Work-Life-Balance gekannt und für sich akzeptiert? Oder haben Sie einen Lebensweg vor Augen, bei dem es bald ruhiger zugeht? Wie ist es denn bisher in Ihrem Leben gewesen: Haben Sie genug Zeit für Freundschaften, Partner, für Ihre Erholung und Ihre Interessen gehabt oder sich genommen? Oder ist das alles immer etwas zu kurz gekommen?
Es hört sich fatalerweise so an, als wenn es in Ihrer Situation um weit mehr geht als nur die aktuelle Situation mit Yannis. Es scheint eher um die Frage zu gehen, wie viel Raum und Zeit der Beruf/die Karriere in Ihrem Leben einnehmen darf und soll und wie viel Zeit für den Rest bleibt, also auch für eine neue Beziehung, für Reisen, in den Tag hineinleben und Freizeit.Peirano Oktober 5 21.25
Dieses Problem wird Ihnen gerade schmerzhaft vor Augen geführt: Sie haben keine Zeit für Yannis und müssen ihn ständig vertrösten oder seine Wünsche unerfüllt lassen – und direkt vor Ihren Augen und hinter Ihrem Rücken tanzt Ihre attraktive Mitbewohnerin herum, die anscheinend ihr Leben viel lässiger angeht und Zeit im Überfluss hat. Damit punktet sie bei Yannis, der auch genug Zeit und Energie hat, um an seine Bedürfnisse zu denken.
Die beiden haben einfach so die Zeit und Kapazität, zusammen essen zu gehen, Kaffee zu trinken, ihr Leben zu genießen und neue Bekanntschaften zu schließen oder auch zu flirten. Wie es sich anhört, wird das täglich mehr. Sie geraten dabei ins Hintertreffen, weil Sie dafür keine Zeit haben, sondern Ihre Bedürfnisse abklemmen müssen und diszipliniert im Studium Leistung erbringen müssen.
Mal Hand aufs Herz: Haben Sie den Eindruck, dass diese Arbeitsphase in Ihrem Leben eher eine Ausnahme ist oder die Regel? Wenn Sie sich vorstellen, wie es nach Ihrem Staatsexamen weitergeht: Werden Sie dann sich und Yannis (oder einem anderen Partner) gerecht werden, oder wird dann die nächste Anforderung kommen, die Ihnen viel Einsatz abverlangt? Und wie geht es Ihnen damit, dass dieses süße Leben oder dolce vita, das Yannis und Bella gerade führen, vielleicht dauerhaft nichts sein wird, was Sie führen oder erleben dürfen? Und warum ist es so, dass Sie der Leistung in Ihrem Leben so einen hohen Stellenwert geben?
Können Sie sich vorstellen, Ihre Work-Life-Balance bewusst zu hinterfragen, wenn Sie wieder Zeit zum Atmen haben und das Examen geschafft ist?
Ich befürchte, dass Sie immer wieder in einen inneren Konflikt geraten werden, wenn Sie Ihre widersprüchlichen Bedürfnisse (Leistung erbringen versus dolce vita) nicht unter einen Hut bringen. Aus meiner Sicht ist die Ursache Ihres Problems, dass Sie auf absehbare Zeit (oder vielleicht für immer) durchgetaktet sind und sich nicht in eine Liebesbeziehung hineinbegeben können, die ja auch viel Zeit und Hingabe erfordert. Deshalb ist Yannis gerade enttäuscht oder fühlt sich vernachlässigt, und Sie selbst empfinden Angst, dass er sich deswegen von Ihnen abwenden könnte (was ich durchaus für realistisch halte).
Dieser ursächliche Konflikt wird dadurch verschärft, dass Bella ins Spiel kommt, die attraktiv ist, viel Zeit hat und Yannis genau das bieten kann, was er gerade möchte: Gesellschaft, Lässigkeit, dolce vita. Sie beschreiben Yannis als einen Mann, der gerne flirtet und die Frauen sowie das Leben liebt. Er hat vor Ihnen auch schon mit Bella geflirtet, und das führt er jetzt weiter. Sie schildern Bella als eine Frau, die egoistisch ist, nicht an Treue oder Loyalität glaubt und sich in dieser Hinsicht selbst die Nächste ist. Die beiden haben also recht viele Gemeinsamkeiten, die sie jetzt zusammen entdecken. Die Frage ist, ob oder wann der Moment kommt, an dem Yannis in Bellas Bett landet, wenn das nicht schon passiert ist, wie Sie befürchten.
Was würden Sie einer Freundin raten, wenn Sie Ihre Situation von außen angucken?
Würden Sie Ihrer Freundin raten, weiter zu kämpfen und zu hoffen, dass sie die neue Beziehung und das Studium unter einen Hut bringen kann?
Oder würden Sie ihr vielleicht raten, den Kampf aufzugeben und sich erst mal auf ihr Studium zu konzentrieren?
Würden Sie ihr raten, sich zu überlegen, wann ihr Leben leichter wird und Yannis zu fragen, ob er bis dahin auf sie wartet?
Würden Sie ihr raten, sich Yannis genauer anzuschauen und zu überlegen, ob er gut zu ihr passt oder doch etwas zu leichtlebig ist?
Nehmen Sie sich doch jeden Tag eine halbe Stunde, um eine Möglichkeit durchzuspielen und sich zu fragen, wie sie sich in einem halben Jahr oder einem Jahr fühlen würde, wenn sie diese Möglichkeit verfolgt hat. Egal, was Sie machen: Keiner dieser Wege wird leicht sein, weil Sie gerade Ihren Kopf fürs Lernen nutzen müssten und unter Druck stehen.
Aber wahrscheinlich wird es Ihnen helfen, sich für eine dieser Möglichkeiten zu entscheiden und Klarheit zu schaffen. Welche das ist, könnten Sie herausfinden, indem Sie die Situation erst von außen betrachten und sich zu fragen, was Sie einer Freundin raten würden, um die Lösung dann in Ruhe zu fühlen.
Herzliche Grüße und bewahren Sie sich Ihre Kraft!
Julia Peirano