Meinung: Die Pflegeversicherung und der Fluch des Erfolgs

Die Reform der Pflegeversicherung hat vieles verbessert. Aber sie kostet und kostet und kostet. Das zeigt auch der heute veröffentlichte Barmer-Pflegereport 2024.

Schon mal von König Pyrrhos gehört? In der Antike war er ein griechischer König und Feldherr. Als er einmal die Römer niedergerungen hatte und in die leeren Reihen seiner Soldaten blickte, sagte er: „Noch so ein Sieg und wir sind verloren.“ Seitdem lebt sein Name als Warnung fort, für einen schwer erkämpften Erfolg.

Die Pflegeversicherung ist ein moderner „Pyrrhus-Sieg“ (Anm. d. Red.: König Pyrrhos und Pyrrhus-Sieg haben unterschiedliche Schreibweisen). Nichts zeigt das besser als ein neuer Report der Barmer Ersatzkasse. Die Pflegeversicherung ist eine Erfolgsgeschichte, die vieles verbessert hat, aber auch verflucht teuer geworden ist.   

Reform der Pflegeversicherung: Pflegebedürftige leben heute besser als früher

Worum es genau geht: Im Jahr 2017 reformierte Angela Merkel die Pflegeversicherung. Aus drei „Pflegestufen“ wurden fünf „Pflegegrade“. Mehr Leute erhalten seitdem Leistungen, besonders wenn sie geistig behindert oder an Demenz erkrankt sind. Der Plan hat funktioniert. Laut des Barmer-Reports leben Pflegebedürftige heute besser als früher. Das zeigt ein Vergleich von kürzlich verstorbenen und aktuell lebenden Pflegebedürftigen: Für die erste Gruppe galten die alten Regeln, für die zweite Gruppe die Reform. Die erste Gruppe lebte nach Beginn der Pflegebedürftigkeit im Schnitt 3,9 Jahre, die zweite bringt es vermutlich auf 7,5 Jahre. 

Es gibt eine weitere gute Nachricht. Menschen, die in der Pflege beschäftigt sind, verdienen nicht länger ein Taschengeld. Zwischen 2015 und 2023 erhielten Hilfskräfte ein Plus von 59 Prozent, Fachkräfte 53 Prozent mehr – für die Normalbürger gab’s währenddessen nur 23 Prozent zusätzlich. Etwa 3900 Euro im Monat bekommt eine Fachkraft der Altenpflege – und damit knapp 400 Euro mehr als ein durchschnittlicher Facharbeiter. Wir lernen: Die Pflegebedürftigen leben besser, und die in der Pflege Beschäftigten verdienen besser.   

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Doch bevor alle in Jubel ausbrechen. Der Gewinn an Lebensqualität ist teuer erkauft worden. Die Kosten pro Pflegebedürftigen wuchsen um 50 Prozent auf durchschnittlich 76.000 Euro, vor allem, weil mehr Menschen Pflegegeld erhalten, um damit den Alltag zu bewältigen oder pflegende Angehörige zu unterstützen.   

Für die höheren Löhne zahlen vor allem die Betroffenen. Heimbewohner greifen immer tiefer in die Tasche. Der durchschnittliche Eigenanteil liegt bei 2351 Euro im Monat, fast 160 Euro mehr als vor einem Jahr – obwohl der Staat Milliarden zuschießt. Bei einer Durchschnittsrente für Männer in westdeutschen Bundesländern von 1436 Euro und für Frauen von 886 Euro sowie in ostdeutschen von 1342 Euro (Männer) bzw. 1081 Euro (Frauen) ist das viel Geld. Leisten kann sich das, wer etwas auf der hohen Kante hat, ein Sparbuch oder eine Lebensversicherung – aber 40 Prozent der Haushalte besitzen fast nichts. Deutschland ist zudem, so eine Studie des gewerkschaftsnahen Instituts WSI, in den letzten zehn Jahren noch ungleicher geworden: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist weiter gewachsen. 

Steigende Kosten: Mehr als 100 Pflegeheime gaben in den vergangenen zwei Jahren auf

Heime und ambulante Dienste kämpfen auch mit den steigenden Kosten, nicht nur wegen der höheren Löhne, sondern auch wegen der Inflation. Sie müssen mehr Geld für Lebensmittel oder Strom hinlegen, und weil das viele nicht mehr schaffen, geben sie auf. Laut dem Branchendienst „Pflegemarkt“ verschwanden hierzulande in den vergangenen beiden Jahren mehr als 100 Heime und mehrere hundert örtliche Pflegedienste. Einen Heimplatz oder eine Pflegekraft für Opa oder Oma zu finden, gleicht einer Lotterie. Viele ziehen eine Niete.  

Gedacht war das anders. Die Ampel wollte die Pflege verbessern, schrieb sie in den Koalitionsvertrag. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat einiges versucht, doch an der Aufgabe, die Kosten zu begrenzen, ist er gescheitert. Weniger an gutem Willen, mehr an Finanzminister Christian Lindner. 

Erinnern Sie sich noch an Corona? Die Pflegeversicherung zahlte damals vieles, was sie nicht musste, etwa Tests für Arbeitnehmer und Bewohner in den Heimen oder Boni für Beschäftigte. Offen sind etwa fünf Millionen Euro. Die Ampel wollte zahlen, tat es aber nicht. Stattdessen verschärfte sie die Not. Lindner strich einen Milliardenzuschuss für die Pflege – für vier Jahre. Es war wie ein Tritt für jemanden, der ohnehin vor einem Abgrund steht.

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Klar, die Liberalen haben auch Ideen zur Pflege, sie sagen dann: „Wir brauchen mehr Kapitaldeckung.“ Heißt, wir sollen mehr sparen, Banken und Versicherer vertrauen, auf dass sie unser Geld mehren. Aber hat das jemals gut funktioniert? Die Riesterrente floppte und der sogenannte „Pflege-Bahr“(eine vom Staat geförderte Versicherung für die Pflege) ebenfalls, weshalb Verbraucherschützer sagen: „Finger weg“. Der Erfinder war, wen wundert’s, ein FDP-Mann: Daniel Bahr. Er war früher Gesundheitsminister und sitzt heute, leider kein Witz, in einem Vorstand der Allianz. 

Versagt hat nicht nur die Ampel. Versagt haben auch die Länder. Sie sollten dafür sorgen, dass die Heime regelmäßig modernisiert werden. Das war der Deal, als die Pflegeversicherung 1995 eingeführt wurde. Doch die Länder haben das Versprechen weitgehend ignoriert, und weil sie den Föderalismus so verstehen, dass sie ungestraft machen, was sie wollen, zahlen wir.  

Dass die Pflegeversicherung nun leidet, überrascht ungefähr so wie Schnee im Winter. 1,8 Milliarden Euro fehlen vermutlich in diesem Jahr, im nächsten Jahr etwa 3,5 Milliarden Euro. Bezahlen Bund und Länder nun ihre Rechnung? Nein. Sie und ich sollen einspringen. Der Pflegebeitrag soll im Januar weiter um 0,2 Prozentpunkte steigen, nachdem er bereits vergangenes Jahr um 0,35 Prozentpunkte geklettert war. 

Mehr als eine wirtschaftliche und soziale Krise

Wie wäre es mal mit einer vernünftigen Reform? Eine Reform, damit Heimbewohner nicht unter der Finanzlast zusammenbrechen. Eine Reform, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ständig höhere Beiträge zahlen. Und eine Reform, damit es genügend Heimplätze und Pflegedienste gibt. 

Was wir in der Pflege erleben, ist mehr als eine wirtschaftliche und soziale Krise. Es ist auch eine Krise der Demokratie. Wenn die Menschen sehen, dass sie selbst mehr zahlen, dass ihre pflegebedürftigen Eltern mehr zahlen, und sie trotzdem kaum Hilfe finden, kann das gefährlich werden. Das Gefühl, dass der Staat versagt, wächst. In den USA hat eine solche Stimmung Donald Trump ins Weiße Haus gebracht, in Deutschland sollten wir verhindern, dass AfD und BSW ihm nacheifern können. Pyrrhus-Siege braucht kein Mensch. 

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