Neurodivergenz: Hochbegabung plus ADHS: „Teilweise scheitere ich an einfachen Dingen“

Eine Topmanagerin erzählt, warum ihr aufgrund ihrer Hochbegabung viele komplexe Dinge scheinbar zufliegen und mühelos gelingen – während sie an alltäglichen Aufgaben verzweifelt.

Für die Schule habe ich kaum gelernt – und hatte trotzdem immer die beste Noten. Ich wurde deshalb weder gehänselt noch gemobbt, dennoch fühlte ich mich von Anfang an anders. Jahrzehnte später entdeckte ich auf Facebook den Begriff „people pleasing“ – und der traf es genau: Nach außen war ich brav und angepasst, anders als ich mich innerlich fühlte. Ich war zu mir selbst distanziert. Manche Dinge lagen mir nicht; dafür entwickelte ich Strategien. Alleine zu lernen fiel mir schwer, ich konnte mich nicht gut motivieren. 

Also tat ich mich im Studium mit Leuten zusammen, die gut strukturiert waren und den Überblick hatten. Aus der elterlichen Wohnung zog ich direkt in eine WG, weil es mir schwer fiel und fällt, eine geordnete Tagesroutine einzuhalten. Eigentlich hätte ich gern Germanistik, Theaterwissenschaften oder Philosophie studiert, aber es war klar, dass ich in diesen „freien“ Studiengängen untergegangen wäre. Ich entschied mich für Wirtschaftsinformatik. Da bekam man einen Stundenplan mit Vorlesungen und Seminaren. Dieses Gerüst erlaubte es mir, mich in meiner Freizeit den wirklich interessanten Dingen zu widmen: tanzen, reisen, Sprachen lernen, Theater spielen. 

Hochbegabung: Trotzdem hatte ich im Studium Schwierigkeiten

Trotz meiner Hochbegabung hatte ich im Studium Schwierigkeiten. Beim Auswendiglernen sperrte sich etwas in mir. Ich wollte die Dinge lieber verstehen, als sie zu pauken. Aber ich kämpfte mich durch – scheitern war keine Option. Mein Gedanke war: Wenn ich das Studium schaffe, finde ich schon einen Job, der mich interessiert. Ich bekam eine Post-Doc-Stelle an der Uni. Das machte mir großen Spaß. Ich machte schnell Karriere, war auf wissenschaftlichen Kongressen unterwegs, wurde als Rednerin und Expertin eingeladen, baute ein großes Netzwerk auf. Die Leute mögen mich, sie nehmen mich als charismatisch und motivierend wahr.

Wie einst in der Schule fielen mir auch an der Uni die Dinge zu, die andere nur mit viel Ehrgeiz, Zeit und Disziplin schafften. Nach einiger Zeit wechselte ich in die Industrie. Auch dort ging es schnell aufwärts. Bald bekam ich die Chance, eine hohe Position im Unternehmen zu übernehmen. Plötzlich war ich für hundert Leute verantwortlich – das bin ich bis heute. Ich liebe meinen Job – eigentlich. Der Nachteil ist: Ich habe auch administrative Aufgaben. Darin bin ich nicht gut. 

Oft fühle ich mich zwiegespalten, wie früher. Auf der einen Seite bin ich die erfolgreiche, kompetente Frau, die schon in jungen Jahren viel Verantwortung übernommen hat, und belastbarer, schneller und kreativer ist als andere. Das ist mein Gesicht nach außen. Und dann gibt es mein chaotisches und dysfunktionales Innenleben: Ich schaffe es oft nur mit allergrößtem Aufwand, Mails zu beantworten, Formulare auszufüllen oder Anträge abzuschicken. Solche Aufgaben, die anderen wenig Mühe machen, treiben mich bis in die Erschöpfung. Manchmal starre ich auf meinen Laptop und bin wie gelähmt. Diesen Anteil von mir halte ich unter Verschluss. Psychische Probleme und Neurodivergenz sind immer noch stigmatisiert. Die Vorstellung, jemand in meinem beruflichen Umfeld wüsste davon, ist ein Albtraum. Dieser Druck und das Wissen, dass ich Verantwortung für meine Mitarbeiter habe und teilweise an einfachen Dingen scheitere, haben mich krank gemacht. Ich bin in einen Burn-out gerutscht. 

Irgendwann fiel bei der Psychiaterin der Begriff ADHS

Auch mein Kind hat Probleme. Irgendwann fiel der Begriff ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung), und ich fing an, darüber zu lesen. Ich machte einen Termin bei einer Psychiaterin, um mein Kind besser verstehen und unterstützen zu können. Je mehr ich ihr von seinen Problemen erzählte, desto mehr erkannte ich mich selbst. Ich machte dann einen Termin nur für mich. Die Psychiaterin ließ mich lange Bögen ausfüllen und stellte mir viele Fragen.

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In den Gesprächen mit ihr fühlte ich mich zum ersten Mal gesehen und verstanden. Ich musste mich gar nicht verstellen! Für die Ärztin war klar, dass ich ADHS habe (bei mir ohne die Hyperaktivität). Das ist drei Jahre her, ich war damals Anfang 40. Die Psychiaterin schlug mir vor, Ritalin zu nehmen. Damit geht es mir heute deutlich besser. Das Medikament hilft mir, Prioritäten zu setzen. Dazu gehört auch, langweilige Dinge anzugehen und durchzustehen. Es hilft mir auch, meine Zeit besser einzuteilen und vorausschauender zu arbeiten. Das konnte ich nie – ich habe immer nur gemacht, was entweder gerade „anbrannte“ oder mich total motivierte. 

Mein Traum ist es, mir meine Arbeit so zu gestalten, dass ich das Medikament nicht brauche. Ich weiß noch nicht, ob und wie ich das hinkriege. Vielleicht müsste ich die Dinge, die ich nicht gut kann, mehr delegieren. Im Moment würde ich gern eine Therapie machen, um das alles besser zu verstehen und mein Leben mehr zu ordnen. Doch die Suche nach einem Therapieplatz ist eine große Hürde für mich. Ich habe es noch nicht geschafft, mir einen Termin zu organisieren.

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