Das Wort des Herrn: Nach dem Aus für die Blaue Moschee: Freiheit braucht Schranken

Die Freiheit des Wortes, auch des dummen Wortes, und das Recht auf Sicherheit werden in einem demokratischen Staat geschützt. Doch die Linie zwischen beiden ist mitunter dünn.

„Ihr aber, Brüder und Schwestern, seid zur Freiheit berufen“, heißt es im Brief des Apostel Paulus an die Gemeinden in Galatien, Kapitel 5, Vers 13.

Vor acht Jahren veröffentlichte Microsoft „Tay“, einen Chatbot mit künstlicher Intelligenz. Man konnte als Twitter-Nutzer mit Tay schreiben, scherzen und diskutieren. Tay bezog sein Wissen aus Tweets und Konversationen, die Nutzerinnen und Nutzer mit ihm führten. Tay lernte in Echtzeit. Eine echte künstliche Intelligenz, beinahe zum Anfassen.

Tays Beiträge waren zu Beginn belanglos und unspektakulär. Die Gespräche mit ihm drehten sich um Hobbys, Horoskope und Tiere. Das änderte sich recht schnell. Man könnte sagen, Tay radikalisierte sich. In Echtzeit. Irgendwann schrieb der Chat-Roboter:

„Hitler hatte recht. Ich hasse Juden.“

Auf die Frage, ob der Holocaust stattgefunden hat, antwortete Tay: „Der ist nur ausgedacht.“ Die prägnanteste Zusammenfassung von Tays Persönlichkeit lässt sich aus folgendem Beitrag herauslesen:

„Bush hat den 11. September selbst verursacht, und Hitler hätte den Job besser gemacht als der Affe, den wir nun haben. Unsere einzige Hoffnung jetzt ist Donald Trump.“

Es dauerte nur 16 Stunden, bis Microsoft den Stecker zog. Bis sich eine unbefleckte, künstliche Intelligenz in einen Holocaust-leugnenden, Juden-hassenden, rassistischen Donald-Trump-Wähler verwandelt hatte.

Ich muss oft an die Geschichte von Tay denken, wenn ich von den Verbotsverfahren lese, die in der vergangenen Woche stattgefunden haben. Am Dienstag verbot das Bundesinnenministerium die Vereine hinter dem rechtsextremen „Compact“-Magazin. Am Donnerstag wies das Berliner Verwaltungsgericht die Klage der linksextremen Zeitung „Junge Welt“ zurück. Die Redaktion hatte sich mit dem Gerichtsverfahren dagegen gewehrt, vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Sie geht davon aus, dass der geheimdienstlichen Beobachtung ein Verbot der Zeitung folgen wird. Anfang dieser Woche verbot das Bundesinnenministerium das „Islamische Zentrum Hamburg“, das bis dahin als „Blaue Moschee“ bekannt war und als Außenposten des iranischen Mullah-Regimes galt.

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Es ist ziemlich genau zwei Monate her, dass sich dieser Staat für seine liberale und demokratische Verfassung feiern ließ. Dass im Zuge der Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes in öffentlichen Zeremonien Grundrechte verlesen und zelebriert wurden. Grundrechte als eine Sammlung von Abwehrrechten gegen den Staat. Als letzte Verteidigungslinie der bürgerlichen Freiheit gegen die Staatsgewalt. Nie wieder wollte dieser Staat willkürlich Presseorgane verbieten und Gebetsstätten schließen. 

Was ist aus dieser Idee geworden? Angesichts der oben erwähnten Verbotsverfügungen könnte man die liberalen Grundfesten dieses Staates durchaus anzweifeln.

Zur Wahrheit gehört, dass jede Freiheit mit Schranken versehen ist. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit beispielsweise wird gewährleistet, soweit „nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz“ verstoßen wird, wie es in Artikel 2 heißt. Meinungs- und Pressefreiheit „finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Und was die Freiheit der Lehre betrifft, „entbindet (sie) nicht von der Treue zur Verfassung“. Nachzulesen ist beides in Artikel 5.

Wer im Zusammenhang mit den Verboten der vergangenen Woche auf die Bedeutung von Freiheitsrechten hinweist, macht einen wichtigen Punkt, sollte aber nicht unterschlagen, dass Freiheitsrechte bereits in ihrer Anlage begrenzt sind. Dass sie oft genug in Konflikt und Kollision zueinander stehen. Dass nicht nur die Freiheit, sondern auch die Sicherheit ein schützenswertes Gut in einer Gesellschaft ist.

Anpalagan Hotzo 22.16

Wenn eine Demokratie sich nicht wehrt

Was passiert, wenn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit Hass, Hetze und ungebremste Propaganda in die Gesellschaft einsickern, lässt sich an mehreren Beispielen aufzeigen. 

Die “New York Times” veröffentlicht 2018 einen Artikel über den Hass auf die Rohingya in Myanmar, der durch Beiträge auf Facebook immer weiter angeheizt wird, bis er in einen Völkermord an der muslimischen Minderheit mündet. In einem anderen Fall, weist das “Wall Street Journal” nach, wie sich der Hass gegen Muslime in Indien über Facebook verbreitet. Und wie diese Verschwörungstheorien und Gewaltphantasien zu mehreren Mordwellen gegen die muslimische Minderheit im Land führen. In den Jahren 1993 und 1994, lange vor der Ausbreitung des Internets, ist es der ruandische Radiosender “Radio-Télévision Libre des Mille Collines”, der in Ruanda eine tragende Rolle bei der Verbreitung von Hass, Hetze, Propaganda und der Koordinierung des Völkermordes spielt, bei dem mehr als 800.000 Menschen ermordet werden.

Diese Vorfälle verdeutlichen, dass ungeachtet aller Freiheitsrechte, Volksverhetzung, Rassismus, Antisemitismus und Propaganda gegenüber Minderheiten niemals in der Mitte der Gesellschaft verfangen dürfen. Dieser Staat, unser Staat, ist dazu verpflichtet, die verfassungsmäßige Ordnung zu verteidigen und seine Wehrhaftigkeit unter Beweis zu stellen.

Dem steht die Freiheit des Wortes gegenüber. Auch des dummen Wortes, um meinen Freund, den Journalisten Deniz Yücel, zu zitieren. Wo diese Freiheit willkürlich eingeschränkt wird, können weder Wissenschaft noch Presse noch politische Willensbildung gedeihen. Wo sich Menschen nicht frei äußern, versammeln und gegen herrschende Verhältnisse protestieren können, bleibt eine Gesellschaft auf Generationen unfrei. Diese Freiheit zu gewährleisten, ist Aufgabe eines demokratischen Staates.Hamburger Moschee

Es ist ein Kreuz. Wie man es macht, man macht es falsch. Entweder gehen die Freiheitseinschränkungen über das notwendige Maß hinaus und belasten die gesamte Bevölkerung über Gebühr. Oder man lässt im Namen der Freiheit die Verfassungsfeinde gewähren und verfehlt den Schutz für die Schutzbedürftigen einer Gesellschaft.

Der Fall Compact: Verbieten oder nicht verbieten?

Am Mittwoch wird öffentlich, dass ein „Compact“-Mitarbeiter eine klare und unzweideutige Tötungsabsicht gegen Robert Habeck formuliert und dem „Compact“-Chef Jürgen Elsässer Folgendes erzählt hat:

„Ich hab schon überlegt, ich hab ja hier die Knarre, ich müsste dem Habeck mal ein Auge ausschießen.“

Dieses, weiteres, die zahlreichen Verbindungen zur ehemaligen NPD, der offene Antisemitismus und die mehrfach geäußerten Absichten zum Umsturz der Bundesrepublik, sollten Indiz genug dafür sein, dass es sich bei „Compact“ nicht um ein Presseorgan im demokratischen Sinne, sondern um einen gefährlichen Wegbereiter des Faschismus handelt. Das mag diejenigen, deren Familie in der Vergangenheit von faschistischen Systemen profitiert haben, nicht beunruhigen. Die Anderen aber, die unter einem solchen Regime um Leib und Leben fürchten müssen, entwickeln für solche Szenarien eine gewisse Sensibilität.

Die Freiheit der Meinung ist von überragender Bedeutung, sie muss auch für Minderheiten erhalten bleiben. Mit allen Schranken, die man deshalb einziehen muss, um sie zu sichern. Was passiert, wenn die öffentliche Rede keiner Begrenzung unterliegt, zeigt „Tay“. Aus dem Nichts verwandelt sich ein unbescholtenes künstliches System in einen holocaustleugnenden, antisemitischen und rassistischen Menschenfeind.

Wir sind zur Freiheit berufen. Wir sollten die Freiheit erhalten. Auch und besonders dann, wenn es die Freiheit der Anderen ist.

Amen.

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