Im Sommer 1874 beginnt ein Theaterensemble aus dem kleinen Thüringer Herzogtum Sachsen-Meiningen eine folgenreiche Europatournee. Die Kunst der Meininger wirkt bis heute nach – in den USA und global.
Aus Südthüringen stammen und in Südkalifornien begeistern: Das gelang dieses Jahr der in Suhl geborenen Sandra Hüller bei den Oscars in Los Angeles. Vor 150 Jahren nahm eine ähnliche Konstellation ihren Lauf; von Meiningen aus – die Stadt liegt nur etwa 20 Autominuten von Suhl entfernt. 1874 begann die Gastspielreisezeit des Meininger Hoftheaters. „Die Meininger“ beeinflussten mit ihrem historisierend-illusionistischen Theater Europas Bühnenkunst – und legten Grundlagen fürs noch heute wichtige Method Acting.
„Ohne Meiningen kein Hollywood“, wird im Süden Thüringens gern gesagt. Doch wie ist das gemeint? Ende des 19. Jahrhunderts inspirierte die naturalistische Spielweise der Meininger den russischen Theatermacher Konstantin Stanislawski zu einer Lehr- und Regiemethode, die das innere Erleben der Rolle betont. Stanislawski hatte in Moskau die beiden Gastspiele der Meininger erlebt: 1885 als 22-Jähriger und 1890 als 27-Jähriger.
Im Jahr 1923 wiederum sah dann der junge Lee Strasberg in New York ein Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters unter Stanislawkis Führung. Strasberg war begeistert, ließ sich bei ehemaligen Stanislawski-Schauspielern ausbilden und gründete ein Studio, wo er „Method Acting“ lehrte. Schauspieler sollen in intensiver Natürlichkeit mit ihrer Rolle verschmelzen. Motto: voll und ganz an das glauben, was man denkt und spricht.
Bei Strasberg (1901-1982) starteten später prägende Hollywood-Stars wie Marlon Brando, Robert De Niro, Al Pacino und Dustin Hoffman ihre Karrieren. Bis heute finden viele Filmstars Method Acting gut, andere Schauspielerinnen und Schauspieler verachten es aber auch. Den psychologischen Hintergrund hatten die Meininger einst nicht ausformuliert, aber der Ansatz des wirklichkeitsnahen Spiels und der individuellen Arbeit an der Rolle geht auf sie zurück.
Das Meininger Theater wurde 1831 eröffnet. Zunächst bespielten fahrende Gesellschaften das Haus – bis Georg II., der kunstsinnige Sohn des Gründers (Bernhard II.), 1866 die Regierungsgeschäfte übernahm und das damalige Hoftheater in seine Hand bekam.
„Auf seine Initiative hin wurde ein festes Schauspielensemble gebildet, die Oper hingegen abgeschafft. Georg II. strebte eine Erneuerung der darstellenden Kunst an“, formuliert es das Theater heute auf seiner Website. Sein Hauptanliegen war es demnach, schauspielerische, dramaturgische und dekorative Elemente zu einem Gesamtkunstwerk zu vereinen. Großen Wert legte er auf detailgetreue historische Ausstattung und wirklichkeitsnahe Spielweise.
Unter der Anleitung von „Theaterherzog“ Georg II. (1826-1914) begann eine intensive Proben- und Regiearbeit. Schwerpunkt war Shakespeare, aber auch Schiller, Kleist und Goethe inszenierte Georg II. werkgetreu. Er gilt als Begründer des modernen Regie-Theaters. Mit den aufsehenerregenden Inszenierungen wurde schließlich auf Tournee gegangen.
Innerhalb von 16 Jahren gab es fast 2900 Aufführungen in 38 Städten – zwischen Stockholm und Triest, London und Odessa. Gespielt wurde auf Deutsch, wichtiger als der Text war das aufwendige Spektakel, das sich als kulturelles Muss (wie heute ein Must-see-Film oder eine Must-see-Serie) herumsprach. Auch in Hamburg, München, Berlin, Wien, Brüssel, Basel, Kopenhagen und eben Moskau traten die Meininger auf – ein deutscher Exportschlager.
Jens Neundorff von Enzberg, der heutige Intendant am Staatstheater Meiningen, will den Nimbus, den Meiningen mal hatte, in Ehren halten. Die Erinnerung daran sieht er auch als Bundesaufgabe. Derzeit macht er sich schon Gedanken, wie man 2026 das Jubiläum des 200. Geburtstags von Georg II. begeht. Es gibt außerdem breit unterstützte Überlegungen in Thüringen, in Meiningen ein Deutsches Theatermuseum einzurichten.
Zurück zum Anfang: Mit Sandra Hüller (46) war im März bei der Oscarverleihung in Los Angeles erstmals seit Luise Rainer vor 86 Jahren wieder eine deutsche Schauspielerin als beste Hauptdarstellerin (Best Performance by an Actress in a Leading Role) nominiert.
Eine Reporterin fragte sie vor der Gala auf dem roten Teppich bewundernd, wie sie sich auf ihre eindrucksvolle Wutszene im Film „Anatomie eines Falls“ vorbereitet habe.
Hüller, die in Berlin auf der (Hochschule für Schauspielkunst) Ernst Busch ausgebildet wurde, antwortete recht trocken – und so gar nicht in der Tradition des Method Acting, sondern eher in der Tradition von Brechts Konzept des distanzierten Spiels: „I really have to disappoint you. It’s not so much. I learned the lines.“ Sprich: Sie habe einfach ihren Text gelernt.