Abnehmspritze: „Ich rate Frauen mit Kinderwunsch davon ab, mit Semaglutid abzunehmen“

Abnehmspritze – und unverhofft schwanger? Betroffene Frauen sind oft verunsichert: Wie wirkt sich das Mittel auf das ungeborene Kind aus? Im Interview erklärt der Gynäkologe Wolfgang Paulus die Datenlage.

Herr Paulus, aus den USA hört man neuerdings von den „Ozempic-Babys“: Kinder von Frauen, die unter der Abnehmspritze mit dem Wirkstoff Semaglutid unverhofft schwanger geworden sind. Das Mittel ist für Schwangere nicht zugelassen. Haben Sie in Ihrer Praxis in Ulm schon besorgte Anrufe erhalten? 
Ja, seit etwa einem Jahr werden wir deshalb kontaktiert, insgesamt sind mir mittlerweile an die 20 Fälle bekannt. Ich erinnere mich an eine Patientin, die merkte in der achten Woche, dass sie schwanger ist. Ihr Zyklus war sehr unregelmäßig gewesen, das Ausbleiben der Regel war für sie nicht ungewöhnlich. Kurze Zeit später verlor sie das Kind. Das kann sehr viele Gründe haben und hat wahrscheinlich nichts mit dem Mittel zu tun. Bei einer anderen Frau in den Vierzigern war die Familienplanung längst abgeschlossen. Sie bemerkte erst nach über 20 Wochen, dass sie schwanger ist. Das Kind kam gesund und munter zur Welt. 

Was sagen Sie den Frauen, wenn Sie Anrufe erhalten?
Ich verweise auf die tierexperimentellen Daten und die Datenlage bei schwangeren Frauen, die leider sehr begrenzt ist. Aus den Tierversuchen wissen wir, dass Semaglutid in der Dosis, wie wir sie für uns Menschen nutzen, keine Auswirkungen auf den Nachwuchs hat. Erst bei der fünffachen Menge war der Stoffwechsel der Muttertiere gestört, sodass Föten nicht mehr gut versorgt wurden. Zum Beispiel war die Skelettentwicklung verzögert. Bei der dreifachen Dosis war die Abortrate (Fehlgeburtrate, Anm. d. Red.) erhöht und der Nachwuchs kam mit etwas weniger Gewicht auf die Welt, als üblicherweise. Aber wir können Tierdaten nicht 1:1 auf den Menschen übertragen. Nur weil Tierversuche unauffällig sind, würde man ein Medikament nicht großzügig bei Schwangeren einsetzen.

Was bedeutet das für die Frauen?
Ich rate jeder Frau mit Kinderwunsch davon ab, mit Semaglutid abzunehmen. Wir wissen nicht final, wie sich das Mittel auf das Ungeborene auswirkt. Wenn jemand versehentlich mit Semaglutid schwanger wird, ist das aber auch kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch.

Der Ulmer Gynäkologe Wolfgang Paulus berät Fachleute und Schwangere zu Medikamenten, deren Wirkung auf das Ungeborene nicht gut erforscht ist
© Universität Ulm

Welche wissenschaftlichen Erfahrungen gibt es denn mit schwangeren Frauen?
Wenige. Letzten Herbst wurde ein Fallbericht aus Dänemark veröffentlicht. Die Frau litt an einem PCO-Syndrom, war übergewichtig und hatte einen unregelmäßigen Zyklus. Mit Semaglutid nahm sie 27 Kilo ab. Sie war in der vierten Woche, als sie merkte, dass sie schwanger war und das Mittel absetzte. Das Kind kam gesund zur Welt. Für eine aktuelle europäische Studie hat man die Daten von fünf Beratungsstellen wie unserer ausgewertet. Dort war die Rate schwerer Geburtsfehler bei Kindern von 168 Frauen, die unter Abnehmmitteln wie Ozempic schwanger geworden waren, gleich hoch wie bei Frauen mit einem Diabetes Typ 2 oder Übergewicht.

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Was wäre aus Ihrer Sicht für die Frauen ein sicherer Weg, um die Chancen der Abnehmspritze zu nutzen?
Man könnte die Therapie so lange verschreiben, bis sie einen regelmäßigen Eisprung und Zyklus haben. Meistens reicht es dafür, zehn bis 15 Kilo abzunehmen. Zwischen Therapieende und Empfängnis sollten aufgrund der Halbwertszeit von einer Woche mindestens fünf Wochen liegen. Umgekehrt muss eine Frau, die Ozempic oder ein ähnlich wirkendes Mittel nimmt und keinen Kinderwunsch hat, gründlich verhüten!

Wird das Thema inzwischen häufiger auf Fachkongressen diskutiert?
In den Kinderwunschzentren wird viel darüber gesprochen – vor allem, weil die Patientinnen danach fragen. Dort setzt man Semaglutid ein, wenn die Frauen trotz anderer Therapieversuche kein Gewicht verlieren. Generell ist das aber noch kein Thema. Ich mache viel Pränataldiagnostik, da wissen die meisten Kolleginnen und Kollegen nicht, auf welche möglichen Fehlbildungen sie bei einem Ozempic-Baby achten müssten.

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Studien mit schwangeren Frauen wird es mit Blick auf mögliche Risiken für Mutter und Kind nicht geben. Um ganz sicher zu sein, braucht man Registerdaten, in denen Informationen aus dem Behandlungsalltag hinterlegt sind.
Ja, aber da können wir in Deutschland lange warten, weil wir keine systematischen Register haben! Vor allem Skandinavien und die USA sind uns weit voraus. Dort werden alle Diagnosen, Therapien, Ereignisse einer Schwangerschaft und die Gesundheitsdaten des Kindes systematisch erfasst. Je nach Fragestellung kann man sich die entsprechenden Zahlen problemlos aus den Datenbanken ziehen. Das einzige Fehlbildungsmonitoring in Deutschland gibt es noch aus DDR-Zeiten in Sachsen-Anhalt. Nur zwei bis drei Prozent der Geburten hierzulande werden an das europäische Fehlbildungsregister EUROCAT (European Surveillance of Congenital Anomalies) gemeldet. 

Das heißt, wir müssen auf die Daten der anderen Länder warten. Wie viele brauchen wir und wie schnell könnte es eine erste Auswertung geben?
Um aussagekräftig zu sein, sollten es mindestens 300 Frauen sein, die unter dem jeweiligen Wirkstoff schwanger geworden sind. Die Fälle sollten man prospektiv verfolgen. Will heißen: Man müsste die Schwangerschaften direkt registrieren und nicht erst, wenn das Kind mit einer Auffälligkeit geboren wurde. Das würde die Daten verfälschen. Ich hoffe, dass wir bald mit weiteren Studien rechnen können. Aber solange wir nichts in der Hand haben, raten wir den Frauen: Bitte nicht unter der Abnehmspritze schwanger werden. 

Das Wichtigste auf einen Blick:

Bei Kinderwunsch sollten Semaglutid und ähnlich wirkende Mittel mindestens fünf Wochen vorher abgesetzt werden. Die Empfehlung des Herstellers beläuft sich sogar auf zwei Monate. Sobald eine Schwangerschaft eingetreten ist, ist die Abnehmspritze abzusetzen – die Frauen sollten unbedingt weiterhin auf ihr Gewicht achten.Wer unter Semaglutid oder vergleichbaren Wirkstoffen schwanger wird, sollte nicht aus Angst, dass das Kind eine Fehlbildung hat, an einen Abbruch denken. Empfehlenswert ist eine engmaschige Betreuung der Schwangerschaft in der fachärztlichen Praxis.

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