Am Donnerstag empfängt der neue britische Premier Keir Starmer fast 50 europäische Staats- und Regierungschefs an einem spektakulärem Ort. Dabei wird es auch um das Brexit-Trauma gehen.
Es ist die internationale Feuertaufe für Keir Starmer: Der neue britische Premier muss am Donnerstag eine Art Europa-Party schmeißen. Eine Party, zu der er gar nicht eingeladen hat. Aber immerhin an einem ikonischen Ort.
In Schloss Blenheim, eines der bekanntesten Schlösser Englands, Geburtsort von Winston Churchill und beliebte Filmkulisse („Harry Potter“, „James Bond“, „Mission: Impossible“), wird Starmer gleich 47 europäische Staats- und Regierungschefs empfangen.
„Europäische Politische Gemeinschaft“ (EPG) heißt das Format, das 2022 gegründet wurde – als Reaktion auf den Ukraine-Krieg und auf Anregung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Eine informelle Vernetzungsplattform für europäische Länder im weiteren Sinn soll es sein. Deshalb gehören ihm nicht nur die EU-Staaten an, sondern auch Beitrittskandidaten wie Moldau, die Ukraine oder Nordmazedonien.
Dreimal hat man sich bislang getroffen, in Prag, in Moldau und in Granada. Zum vierten Treffen in Schloss Blenheim hatte noch Starmers Vorgänger Rishi Sunak eingeladen.
Die Stimmung ist gekippt
Für seinen Nachfolger in der Downing Street kommt das Treffen trotz allem Vorbereitungsstress aber gelegen. Nach dem harten Brexit war Großbritannien auch politisch an den Rand Europas geraten. Doch was zum Befreiungsschlag für die Insel aus dem Brüsseler Korsett werden sollte, ist längst eine Belastung.
Mitte Januar hatte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan die Ergebnisse einer von ihm beauftragten Untersuchung der britischen Beratungsfirma Cambridge Econometrics öffentlich gemacht. Ihr zufolge kostet der Brexit Großbritannien jedes Jahr 140 Milliarden Pfund. Die Wirtschaftsleistung habe sich seit dem Austritt um sechs Prozent verringert.
Die Stimmung im Land ist schon länger gekippt. In Umfragen ist inzwischen regelmäßig eine knappe Mehrheit der Briten der Ansichts, dass der Austritt aus der EU ein Fehler war.Vom Arbeitersohn zum Ritterschlag: Der außergewöhnliche Weg des Sir Keir Starmer 12.01
Keir Starmer, als Labour-Chef ein natürlicher Verbündeter von Bundeskanzler Olaf Scholz, würde mit einem U-Turn in der britischen Europa-Politik also durchaus einen Nerv in der eigenen Bevölkerung treffen. Allerdings hatte er im Wahlkampf bereits angekündigt, Großbritannien werde „zu seinen Lebzeiten“ der EU nicht mehr beitreten. Warum?
„Diese Aussage von Starmer sollte man nicht ganz wörtlich nehmen“, sagt Thomas Matussek, Vorsitzender der Deutsch-Britischen Gesellschaft und von 2002 bis 2006 Botschafter in Großbritannien: „Die Frage, ob Grobritannien wieder in die EU zurückkehrt, kann für die nächsten Jahre niemand seriös beantworten.“ Das habe mit der schwierigen Gemengelage zu tun, so der Ex-Diplomat. Zwar sei inzwischen eine Mehrheit gegen den Brext: „Aber es ist eine wackelige Mehrheit.“ Sie setze sich nur zum Teil aus EU-Befürwortern zusammen; der andere Teil seien Briten, die den Brexit nur für schlecht umgesetzt hielten.
Keir Starmer hat ein Brexit-Trauma
Hinzu kommt, dass Starmer ein Brexit-Trauma hat. 2019 hatte er angekündigt, dass Labour im Falle eines Wahlsiegs bei der Unterhauswahl die Briten erneut über den Brexit abstimmen lassen und seine Partei dabei für einen Verbleib in der EU werben würde. Die Folge: Der konservative Premier Boris Johnson gewann mit dem Versprechen, „to get Brexit done“ (er werde den Brexit hinbekommen), während Labour abstürzte. Das hat Keir Starmer nicht vergessen. Auch deshalb tauchte im Wahlprogramm von Labour der Begriff „Brexit“ nur ein einziges Mal auf.
Allerdings steckt der Premier in einem Dilemma. Vollmundig hat er vor der Wahl versprochen, Großbritannien werde unter seiner Führung das Land mit dem schnellsten Wirtschaftswachstum unter den G-7-Staaten. Natürlich könne das auch ohne die EU gelingen, lästerte daraufhin ein britischer Kommentator; aber das wäre ungefähr so leicht, wie sich die Schuhe ohne Hände zuzubinden.Großbritannien: Erdrutsch-Sieg für Labour 8.00
„Eine Annäherung an einen gemeinsamen Markt mit der EU ist im Sinne Großbritanniens“, sagt denn auch Ex-Botschafter Thomas Matussek. Er rechnet damit, dass sich die britische Regierung aber eher in behutsamen Schritten auf die EU zubewegen werde. Das könnte auch über gemeinsame Rüstungsprojekte oder eine enge Abstimmung in der Ukraine-Politik geschehen, glaubt Matussek.
Starmer muss aufpassen, dass er die EU-Skeptiker im eigenen Land nicht vor den Kopf stößt. Zugleich muss er bei der EU den Eindruck vermeiden, Großbritannien betreibe „Cherrypicking“, wolle also nur von den Vorteilen der Europäischen Union (wie Zollerleichterungen) profitieren, aber alle Verpflichtungen vermeiden.
Eine Wiederannäherung zwischen Großbritannien und der EU hält Ex-Botschafter Matussek aber auch aus deutscher Sicht für geboten: „Die Briten sollten wissen, dass wir sie brauchen, auch als europäische Nuklearmacht.“ Angesichts einer möglichen Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, den Spannungen mit China und der instabilen politischen Lage in Frankreich sei es wichtig, dass der Rest Europas enger zusammenrücke. Ob Großbritannien am Ende wieder ganz formal in den Schoß Europas, oder vielmehr: der EU, zurückkehre, sei zweitrangig.
Das Europa-Treffen in Schloss Blenheim könnte für Keith Starmer und die EU-Staats- und Regierungschefs jedenfalls zum Beginn einer neuen wunderbaren Freundschaft werden.