Der amerikanische Präsident will den Demokraten seine erneute Kandidatur mit aller Macht aufzwingen. Er stellt sich selbst über das Wohl des Landes. Das ist nicht tragisch, sondern töricht.
Joe Biden liebt diese Sendung. Wann immer er kann, schaut der US-Präsident „Morning Joe“, das amerikanische Frühstücksfernsehen auf dem Nachrichtensender MSNBC. Mit Moderator Joe Scarborough tauscht sich Biden sogar regelmäßig in privaten Gesprächen aus. Den beiden wird ein freundschaftliches Verhältnis nachgesagt.
Am Montag wollte Biden nicht nur vor dem Fernsehsender sitzen, sondern das Programm selbst mitgestalten. Er rief in der Sendung an, um den Zuschauerinnen und Zuschauern zu erklären, dass er seine Präsidentschaftskandidatur nicht zurückzieht. „Ich bin überzeugt, dass der durchschnittliche Wähler immer noch Joe Biden will.“ Was die Parteieliten wollten, sei ihm egal. „Ich bin so frustriert von den Eliten“, sagte der Präsident hörbar aufgebracht.
Kurz zuvor hatte der Präsident einen Brief an die demokratischen Kongressmitglieder geschrieben. „Ich bin fest entschlossen, bis zum Schluss im Rennen zu bleiben und Donald Trump zu schlagen“ heißt es darin.
Biden will die Debatte über seine Person mit einem Machtwort für beendet erklären. Sie wird aber nicht enden, zumindest vorerst.
Dass der 81-Jährige einen offenen Brief schreibt und anschließend wütend im Frühstücksfernsehen anruft, zeigt vor allem, dass die Nerven blank liegen. Mittlerweile sprechen sich neun Mitglieder des Kongresses offen für seinen Rückzug aus, hinter den Kulissen sollen es noch deutlich mehr sein.
72 Prozent der Amerikaner halten Biden für mental nicht mehr fit genug
Joe Biden möchte, dass sich die Partei hinter ihm versammelt. Nach langen und harten Vorwahlen hat das Tradition in amerikanischen Parteien. Als Barack Obama und Hillary Clinton sich im Jahr 2008 monatelang hart bekämpften, stellte sie sich nach seinem Sieg in den Dienst der Partei.
Doch 2024 ist die Lage eine andere. Joe Biden war bis vor zwei Wochen der unangefochtene Kopf der Partei, bei den Vorwahlen hatte er nur von No Names Konkurrenz, die als Nestbeschmutzer gebrandmarkt wurden. Mit der TV-Debatte bestätigte Biden vielmehr Vorbehalte gegen ihn, die die Bevölkerung schon lange hegt – dass er schlichtweg zu alt für das Amt des US-Präsidenten ist. 72 Prozent der Amerikaner sagen laut einer Umfrage, sie halten Biden kognitiv und mental nicht mehr für fähig, das Land zu führen.
STERN C Demokraten Spender 12.09
Biden stellt die Bürgerinnen und Bürger nun vor eine unmögliche Wahl: Entweder einen verurteilten Verbrecher wählen, der die USA unfreier und autokratischer machen möchte oder für den ältesten US-Präsidenten aller Zeiten stimmen, obwohl der die gesundheitlichen Sorgen um ihn nicht entkräften kann.
Gelegentlich ist nun zu lesen, die aktuelle Entwicklung sei eine Tragödie. Doch ein tragischer Held ist in der Regel in einer ausweglosen Situation gefangen. Das ist hier nicht der Fall, es gibt einen Ausweg: Sich zurückziehen. Vor vier Jahren hatte Biden gesagt, er sei die „Brücke“ für eine „neue Generation“. Er hat damals nicht zugesichert, dass er nach einer Amtszeit abtreten würde. Aber eine Brücke, über die man acht Jahre lang gehen muss? Come on, Joe!
Joe Biden kann den Trump-Trend nicht brechen
Mit seinem Starrsinn droht Biden zu verspielen, was er in den vergangenen dreieinhalb Jahren erreicht hat. Er war es, der Donald Trump 2020 besiegte und das Land nach Monaten und Jahren des Chaos wieder auf Kurs brachte. Er hat Amerika stabilisiert und international wieder als verlässlichen Partner positioniert. Vernunft statt Willkür – das ist es, wofür Biden immer stand.
Vor vier Jahren lag Biden in den Umfragen rund zehn Punkte vor Trump. Nun liegt er sechs Punkte zurück – und es ist nicht zu erkennen, wie der Präsident diesen Trend, der seit Monaten hält, umdrehen will. Mittlerweile kämpft er nicht nur gegen Trump, sondern auch gegen Teile seiner eigenen Partei. Erst Joe Biden, dann das Land – das ist Moment die Devise. Damit droht sich der Präsident an dem Land zu versündigen, das er zu schützen geschworen hat und dem er seit über einem halben Jahrhundert dient.
Ja, Donald Trump ist tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie. Und nein, es ist keineswegs sicher, dass eine andere Kandidatin oder ein anderer Kandidat Donald Trump besiegen würde. Für die Demokraten geht es nur noch um das Geringere von zwei Übeln. Wer auch immer Biden als Kandidat ersetzen würde – sie oder er hätte nicht viel Zeit, weniger als vier Monate, um einen überzeugenden Wahlkampf zu führen. Das ist ein Risiko. Mit Joe Biden, einem körperlich und politisch geschwächten Amtsinhaber, in die heiße Wahlkampfphase zu ziehen, wäre das größere Risiko.