An Bayern-Star Harry Kane läuft das EM-Turnier bislang vorbei. Die britische Presse zählt den Kapitän der Three Lions vor dem Halbfinale gegen die Niederlande öffentlich an.
Gareth Southgate attestierte Harry Kane „einen super Job“. Diese Meinung über seinen Kapitän hat der englische Cheftrainer aktuell ziemlich exklusiv. Der sonst als Tormaschine bekannte Kane ist bei britischen Medien, einigen Experten und vor allem bei zahlreichen Fans der Three Lions vor dem EM-Halbfinale gegen die Niederlande am Mittwoch (21.00 Uhr/ZDF und MagentaTV) massiv in die Kritik geraten.
„Immense Rolle“
Die Vorwürfe: Der Bayern-Star ist nicht fit, läuft seiner besten Verfassung weit hinterher und ist trotz zwei Turniertoren kein Faktor im englischen Spiel bislang. Auf dem Weg zum ersten großen Triumph seit dem WM-Titel vor 58 Jahren stellt sich vor allem eine Frage: Hilft ein Kane außer Form diesem Team – oder schadet er eher? „Er ist vielleicht nicht im Fluss, aber er spielt immer noch eine immense Rolle für die Gruppe“, sagte Southgate zur Verteidigung seines Führungsspielers.
Wie sehr das Denkmal Kane in diesen Tagen wackelt, zeigten die beiden vergangenen K.o.-Spiele: Auswechslung beim Sieg nach Verlängerung gegen die Slowakei. Auswechslung beim Sieg nach Elfmeterschießen gegen die Schweiz, als er sich mit Krämpfen vom Feld schleppte. Danach sah er von der Bank zu, wie alle Schützen die Nerven behielten. Eine Situation, die bei früheren Turnieren undenkbar erschien.
Die Alternativen heißen Toney und Watkins
In den heimischen Medien wurde seine Leistung daraufhin verurteilt. Kane wurde in der Kategorie „Loser“ einsortiert und als „unbeweglich“ beschrieben. Der 30-Jährige selbst geht ganz gelassen mit der Kritik um. „Wir sind im Halbfinale, also machen wir es wohl recht gut. Wir haben wirklich diesen Glauben, dass wir etwas Besonderes schaffen können“, sagte Kane.
Nicht wenige fordern, Kane durch einen der beiden bisherigen Reservisten Ivan Toney oder Ollie Watkins zu ersetzen. Doch der konservative und stets loyale Southgate wird seinen Kapitän in Dortmund gewiss nicht antasten. „Gareth wird bei ihm bleiben, er wird Harry Kane nicht rausnehmen. Er ist einer seiner Anführer und einer der größten Fußballer, den England je hatte“, sagte Ex-Nationalspieler Gary Neville bei Sky.
Zumal Kane nach der Auswechslung im Viertelfinale schnell Entwarnung geben konnte. „Mir geht es gut, ich war einfach müde. Ich hatte ein bisschen Krämpfe, bin über ein paar Wasserflaschen gestolpert und beide Waden haben gekrampft“, berichtete der Stürmer. Schon früher im Turnier hatte der Bayern-Torjäger gesagt, er sei bei 100 Prozent.
Weniger als 100 Pässe empfangen
Wer Kane im Turnier spielen sieht, zweifelt daran. Der sonst so spiel- und passstarke Kane hängt oft völlig in der Luft. Der „Guardian“ schlüsselte am Montag Statistiken auf, um ein detailliertes Leistungsbild zu bekommen. Ergebnis: Schlechte Passquote, sehr wenige Ballkontakte. Während die weiteren Offensivspieler Jude Bellingham und Phil Foden über die fünf Spiele bei der EM hinweg insgesamt 300 Pässe empfangen haben, sind es bei Kane noch nicht einmal 100.
Doch selbst wenn er auf dem Rasen nicht überzeugt: Kane ist als unumstrittener Chef fürs Kollektiv nicht zu ersetzen. Er ist im Team als kollegialer Anführer unumstritten und verteidigt seine Mitspieler gegen Kritik von außen. So auch bei dieser EM, als die Experten schon früh lospolterten und die nationale Ikone Gary Lineker Englands Leistung als „shit“ bezeichnete.
Kane entgegnete: „Ich will nicht respektlos sein zu einem Spieler, schon gar nicht zu so einem verdienten. Wir haben seit langer Zeit nichts mehr gewonnen. Diese Spieler waren davon ein Teil. Sie wissen, wie hart es ist bei diesen Turnieren.“ Diesmal erscheint es für England besonders hart. Die Three Lions stehen zwar im Halbfinale, doch vor allem in den K.o.-Partien spielte Glück eine große Rolle. England rumpelt durchs Turnier und hat noch keinen einzigen sehenswerten Auftritt hingelegt.
Endet Kanes Titellosigkeit in Berlin?
Für Kane könnte sich die Geschichte in diesen Tagen in seiner Wahlheimat tatsächlich auf ganz kuriose Weise umkehren. Seine Karriere lang schoss der Stürmer Tor um Tor, stellte Bestmarken auf – und ging am Ende wieder leer aus. Selbst Dauermeister FC Bayern wurde in der abgelaufenen Spielzeit plötzlich als nationaler Champion von Bayer Leverkusen abgelöst. Und das, obwohl Kane in seiner ersten Saison 36 Bundesliga-Tore erzielte.
Diesmal sind die Engländer allen Zweifeln und Zweiflern zum Trotz ganz nah am Silberpokal. Und das, obwohl Kane angeschlagen aussieht, Bellingham überspielt wirkt und das Milliardenensemble nur Fußball auf Sparflamme anbietet. Noch zwei Siege, dann könnte Kapitän Kane am Sonntag den Pokal in den Berliner Nachthimmel recken.al den Ball berührte.