Nach dem EM-Aus wird Julian Nagelsmann bewusst, wie sehr er mit der Nationalmannschaft verwachsen ist. Einer Mannschaft, die er eigentlich im August hatte verlassen wollen.
Eine Nacht, wenn auch eine größtenteils durchwachte, lag zwischen dem Schlusspfiff in Stuttgart und dem Auftritt von Julian Nagelsmann in Herzogenaurach am Samstagmittag. Doch wer Nagelsmann dort sitzen sah auf dem Podium, der konnte meinen, das EM-Viertelfinale gegen Spanien sei erst vor wenigen Minuten zu Ende gegangen. Nagelsmann kämpfte mit den Tränen und verlor diesen Kampf, als er über jene 1:2-Niederlage sprach, die das Turnier für die Deutschen beendete.
„Es war sehr emotional gestern mit den Fans“, sagte Nagelsmann, „wir hätten ihnen gern noch mehr gegeben.“
Nagelsmann bricht die Stimme weg
Ein Allerweltssatz, aber als Nagelsmann ihn sagte, brach ihm plötzlich die Stimme weg. Kein Räuspern half, sie war aufgeweicht von Tränen. Nagelsmann kürzte die Antwort ab und blickte schweigend auf die Tischplatte. Aus dem Auditorium aber kam gleich die nächste Frage, und sie ging nicht an den DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf oder den Sportdirektor Rudi Völler, die auch da oben saßen, sondern wieder an ihn, Nagelsmann.
„Scheiße“, sagte Nagelsmann. Kurze Pause, und dann: „Nein, okay, ich bin da.“
Es steckt einiges in diesem kleinen Satz. Er taugt als Überschrift für die zehn Monate, in denen Nagelsmann die Nationalmannschaft anleitet.
Nie hat er sich weggeduckt
Tatsächlich ist Nagelsmann immer da gewesen, nie hat er sich weggeduckt, auch in schwierigen Momenten nicht, von denen es schon einige gab. „Okay, ich bin da“, diesen Satz hat in den zurückliegenden zwanzig Jahren kein Bundestrainer so sehr mit Leben gefüllt wie Nagelsmann.
Der Autor des Sommermärchens 2006, Jürgen Klinsmann, tat es schon gar nicht. Er war ein Meister der Selbstverknappung; wann immer sich die Möglichkeit bot, flog er in seine Wahlheimat Huntington Beach, Kalifornien. Joachim Löw tauchte oftmals für Wochen im Schwarzwald ab, und wenn er dann Dienst hatte bei der Nationalmannschaft, blieb er freundlich-unzugänglich. Er gewann 2014 die WM in Brasilien, aber was weiß man über diesen Meistertrainer als Menschen? Dass er gern Espresso trinkt, gern auch zwei, aber sonst? Hansi Flick war da zugewandter, doch er verstand sich als reiner Fußballlehrer, der die Vor- und Nachteile von Vierer- und Fünferketten abwägt. Das absorbierte ihn völlig, zumal sich Flick bis zum Schluss weder für eine Vierer- noch für eine Fünferkette entscheiden konnte, was ihn schließlich den Job kostete.
Der Erste seit Beckenbauer, der über die Fußballwelt hinausstrahlt
Nagelsmann ist der erste Bundestrainer seit Franz Beckenbauer, der über den Fußball hinausstrahlt. Er mischt sich in gesellschaftliche Debatten ein, er ist überzeugt, dass die Nationalmannschaft Werte vermitteln kann, die für das Zusammenleben wichtig sind. „Wir brauchen mehr Gemeinsinn“, sagte Nagelsmann in Herzogenaurach, „wenn wir zusammenhalten als Land, können wir dafür sorgen, dass es vielen besser geht.“
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Man kann dies für eine Sonntagsrede halten und hinterfragen, welche Prinzipien aus dem Profisport sich denn tatsächlich auf die Gesellschaft übertragen lassen, ob dieses Subsystem mit seinen Millionengehältern nicht ganz eigenen Logiken folgt – aber immerhin hatte hier jemand seine Stimme erhoben und fühlte sich für mehr verantwortlich als nur für die nächste Mannschaftsaufstellung.
Mit großem Sendungsbewusstsein
Dass Nagelsmann das Amt des Bundestrainers mit einem solchem Sendungsbewusstsein ausüben würde, war nicht abzusehen, als er im September vergangenen Jahres die Nachfolge von Hansi Flick antrat. Da fremdelte er mit seinem neuen Job und wurde nicht müde zu betonen, wie sehr ihm die tägliche Arbeit mit einer Vereinsmannschaft fehle. Viele Beobachter und auch der DFB mutmaßten, dass Nagelsmann nach der Heim-EM aufhören und einen europäischen Spitzenverein übernehmen würde. Liverpool, Barcelona oder Bayern, es gab genügend freie Trainerstühle.
Nagelsmanns Sinneswandel vollzog sich im Verborgenen. Seine Vertragsverlängerung beim DFB im Mai war eine Überraschung, aber, wie man heute weiß, nur folgerichtig.
Seit den trüben Spielen in Herbst nämlich, seit den Niederlagen gegen die Türkei und Österreich, ist Nagelsmann mit dem Team verwachsen wie mit keinem anderen zuvor. Damals im November 2023 stand Nagelsmanns Reputation als Trainer auf dem Spiel. Seine Entlassung beim FC Bayern lag erst ein halbes Jahr zurück, und es mehrten sich die Stimmen, dass dieser Nagelsmann ein Blender sei, einer großen Aufgabe nicht gewachsen, weder in München noch in Frankfurt beim DFB.
Der März brachte die Wende
Dann kam der März, Nagelsmann warf sein taktisches Konzept um und die Mannschaft gewann gegen den WM-Zweiten Frankreich und die Niederlande. Das war der „Urknall“ wie Joshua Kimmich später sagte, und plötzlich schien alles möglich, auch bei der EM.
Nagelsmann hatte die Mannschaft hinter sich gebracht, nicht nur durch präzises Coaching, sondern auch durch Empathie. Noch dem dritten Ersatztorwart gab er das Gefühl, wichtig zu sein für den Erfolg des Teams.
Wie sehr er an dieser Mannschaft hängt, hat Nagelsmann womöglich selbst erst am Samstag gemerkt, eine Nacht nach dem Aus gegen Spanien. In Herzogenaurach sprach er über seine Spieler wie über Söhne, dabei sind einige kaum jünger als er.
Für jeden Spieler ein warmherziges Wort
Er lobte Robin Koch, den einzigen Feldspieler, der bei der EM ohne Einsatz geblieben war. Wie Koch sich verabschiedet habe von ihm, ohne Groll, ohne vorwurfsvollen Unterton – „absolut selbstlos, große Klasse“, sagte Nagelsmann. Er sprach auch über Ilkay Gündogan, „unseren stillen Leader“, der bis ganz zum Schluss im Camp blieb, weil ein Kapitän eben als Letzter von Bord geht, wie auf hoher See. Auch seine beiden Assistenztrainer Sandro Wagner und Benjamin Glück schloss er in seine Dankesrede ein, zwei Leute, denen er „absolut vertraue“. Überhaupt der Staff: „Es gab noch keine Mannschaft, in der ich nicht das Gefühl hatte, ich müsste jemanden austauschen, weil er abträglich ist für den Gesamterfolg. Bei dieser Mannschaft ist es so.“
Noch Stunden hätte dies so weitergehen können beim Pressegespräch: Nagelsmann einen Namen zurufen – und der Bundestrainer hätte zu jedem warmherzige Worte gefunden, verbunden mit einer kleinen Geschichte aus dem Camp.
Ein Spiel wie eine Schlacht_0740
Es ist eine erstaunliche Wandlung, die Nagelsmann durchgemacht hat in den zurückliegenden Wochen. Lange hatte es geheißen, er könne „die Kabine nicht hinter sich bringen“, wie das im Fußballjargon genannt wird. Ihm, dem Taktiknerd, fehle das Gefühl für Gruppendynamiken, er dränge selbst viel zu stark ins Licht. Beim FC Bayern erzählen sie dies noch heute.
Das Pfauenhafte hat Julian Nagelsmann abgelegt
Die EM hat gezeigt, dass dieses Bild, das an ihm haftet wie ein Tattoo, so nicht mehr stimmt. All das Pfauenhafte hat er abgelegt. Er setzt keine Pointen mehr, die er selbst am lustigsten findet, er trägt keine grellen Klamotten mehr, die vom Boulevard tagelang ausgedeutet werden.
Er weint vor laufender Kamera. Es ist ihm nicht peinlich, er flüchtet nicht aus der Situation. Auch nicht, wenn ihm die Stimme wegbricht. Auch nicht, wenn es sich scheiße anfühlt, wie er das nennt.
Er ist da.