EM 2024: Schweizer stürzen Italien – und freuen sich schon auf den nächsten EM-Favoriten

Fast alle Spieler sind bei europäischen Spitzenclubs unter Vertrag – trotzdem gilt die Schweiz bei der EM als Außenseiter. Damit dürfte es nach einer großartigen Vorstellung gegen Italien vorbei sein.

Minuten vor Schluss, als auf den Rängen links und rechts vom Marathontor im Olympiastadion von Berlin schon längst eine Party im Schweizer Rot tobte, sah man Italiens Torhüter Gianluigi Donnarumma ganz allein in der italienischen Hälfte stehen, mit weit ausgebreiteten Armen, die Handflächen flach ausgestreckt, die Schultern hochgezogen – eine Geste zwischen Hilflosigkeit und Verzweiflung. 

Immer wieder blickte Donnarumma in Richtung Coaching-Zone, aber da hatte ihm der „Commissario Tecnico“ schon längst den Rücken zugekehrt. Italiens Nationaltrainer Luciano Spalletti tigerte wütend zurück in Richtung Ersatzbank und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Was wohl heißen sollte: Spinnen die jetzt alle? 

Italien von den Schweizern niedergespielt 

Es waren jene Spieler, die Spalletti zufolge bei dieser EM „den Anzug ausziehen“ und „Gras fressen“ sollten.Nicolò Barella, Mittelfeld-Stratege des italienischen Meisters Inter Mailand hatte sogar angekündigt: „Ich werde Blut spucken für diese Trikot“. 

Nichts davon passierte. Italien fügte sich in sein Schicksal, eine große Fußballnation sank dahin, wie paralysiert an diesem drückend schwülen Samstagabend in Berlin. Noch nicht mal niedergekämpft von der Schweiz, nein niedergespielt. Von einer Mannschaft, die man früher unter der Rubrik „Fußballzwerg“ einsortierte. 

Aber, so die Erkenntnis nicht nur dieses Abends: „Fußballzwerge“ gibt es nicht mehr. Das Fußballgeschäft ist globalisiert, die Unterschiede ebnen sich ein. Allein sechs Spieler aus dem Kader des Schweizer Trainers Murat Yakin spielen in der italienischen Serie A. Zwischen dem Schweizer Torwart Yann Sommer und den Italienern Nationalspielern kam es deshalb schon vorher im Kabinentrakt zu herzlichen Umarmungen. Man kennt sich, man schätzt sich. Ein Familientreffen.

Die Schweizer spielen überall – nur nicht in der Schweiz

Im Schweizer Aufgebot, das schon das deutsche Team an den Rand einer Niederlage gebracht hatte, stehen Spieler aus allen möglichen europäischen Spitzenklubs – nur (fast) keine aus der Schweiz. Sie sind bei Inter Mailand, Manchester City, Borussia Dortmund oder Bayers Leverkusen unter Vertrag – in der Bel Etage des europäischen Fußballs. 

Aber sie haben die Leidenschaft eines Underdogs. Und mit Murat Yakin einen Trainer, der offenbar die aktuellen taktischen Entwicklungen weltweit sehr genau studiert hat, um sie zu einer Mischung zu kombinieren, die für jeden Gegner toxisch werden kann. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“ schallte es aus dem mit Kuhglocken ausgestatteten Schweizer Fanblock. Dabei waren sie doch schon in Berlin – aber zum Finale wollen sie wiederkommen.

Finale? Die Schweiz? Echt jetzt?

Europameister ohne Worte: Torhüter Gianluigi Donnarumma (l.) und Mittelfeldmann Lorenzo Pellegrini stellen sich ihren Fans
© Robert Michael

„Es kann so viel passieren“, sagte Yakin nach dem Spiel. „Die Reise ist noch nicht fertig.“ England als nächster Gegner im Viertelfinale? England kann ruhig kommen – findet Murat Yakin.

Mentailitäts-Europameister sind sie vielleicht jetzt schon

Mentalitäts-Europameister sind diese Schweizer vielleicht schon jetzt. Vor dem Italien-Spiel produzierten die Spieler ein Video, in dem sie sich bei Physiotherapeuten, Assistenztrainern, Köchen und Zeugwarten bedankten – bei all den stillen Helfern, die zum Erfolg auch gehören. Eine verschworene Truppe, ausgestattet mit unbändigem Willen. Nach dem Treffer zum 1:0 riss einer der Spieler kurzerhand das Absperrband im Olympiastadion nieder, das den Innenbereich von den Zuschauern trennte, um im Jubel des Publikums so richtig schön baden zu können. 

Alle haben vor dieser EM vom „Geheimfavoriten“ Österreich geredet. Die Schweizer dagegen sind irgendwie die ganzen letzten Jahre unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung geflogen. Dabei haben sie seit der WM 2014 bei jedem großen Turnier die K.-o.-Phase erreicht. Bei der vergangenen EM besiegten sie im Achtelfinale sogar den damals amtierenden Weltmeister Frankreich und zogen erstmals ins Viertelfinale ein. 

Rund um die Achse der Schlüsselspieler Xhaka, Akanji und Sommer gruppiert sich eine Truppe, die jedem Gegner wehtun kann. Mal presst sie hoch, erstickt die gegnerische Spieleröffnung, nervt und stresst und verhindert, dass der Gegner in seinen Rhythmus kommt. Dann wieder lässt sie sich tief zurückfallen, mit fünf Mann in der letzten Linie. 

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Die Schweizer locken dann das andere Team geradezu in die eigene Hälfte, um nach Ballgewinn blitzschnell umzuschalten und vor allem über die linke Seite die gegnerische Rest-Abwehr zu überrumpeln. Spieler wie Ndoye und Embolo schlichen sich in Berlin ein ums andere Mal hinter den Rücken der italienischen Abwehrkette, vorzugsweise in die Schnittstellen zwischen Außen- und Innenverteidigung.

Also wolle der Fußballgott die „Squadra Azzurra“ noch ein letztes Mal demütigen

Der Treffer durch Ruben Vargas zum 2:0 war so typisch für das Schweizer Spiel, das ihn künftig jeder Analyse-Scout in seiner Video-Ausschnittsammlung aufnehmen wird. Eine kurze Flachpass-Kombination im linken Halbfeld, verblüffte Italiener, die sich weitgehend mit staunendem Zuschauen begnügten – dann ein Zuspiel auf Vargas am linken Strafraumeck. Er wurde nicht angegriffen und so setzte er einen Schlenzer ins rechte Toreck, der verblüffend an das Ausgleichstor der Italiener im Spiel gegen Kroatien erinnerte, das Tor, das ihnen in der achten Minute der Nachspielzeit noch ein letztes Mal Leben eingehaucht hatte. 

Es war, als wolle der Fußballgott die stolze „Squadra Azzurra“ auf besonders perfide Weise nochmal so richtig demütigen.

Als alles vorbei war, konfrontierte ein Reporter den italienischen Trainer mit einer bösen Metapher: Die Schweiz habe wie ein Ferrari gewirkt, Italiens Nationalmannschaft dagegen eher „wie ein Fiat Panda“. Luciano Spalletti reagierte durchaus angefasst, dann aber doch mit einem Schuss von Souveränität. „Ich merke an ihrer Frage, dass sie ein sehr ironischer Mensch sind. Aber wenn man verliert, muss man alles akzeptieren.“

 

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