Nach Fall Arian: Was bedeutet es, Mutter eines autistischen Kindes zu sein?

Die mögliche Überforderung immer im Blick: Erziehungsexpertin und Autorin Susanne Mierau ist durch ihren autistischen Sohn auf besondere Weise herausgefordert. Im Interview erzählt sie, was das für den Familienalltag bedeutet.

Seit Montag vergangener Woche wird in Niedersachsen der sechsjährige Arian vermisst, der Autist ist. Welche Gedanken haben Sie als Mutter eines Kindes, das sich ebenfalls im Autismus-Spektrum bewegt? 
Die Tatsache, dass ein Kind vermisst wird, macht mich betroffen. Ganz gleich, ob es ein Kind mit Autismus ist oder eines ohne Beeinträchtigung. Mich berührt besonders, dass der Junge nichtsprachlich ist und dadurch noch einmal mehr auf Hilfe angewiesen ist. Als Mutter eines elfjährigen Sohnes im Autismus-Spektrum weiß ich, wie er sich in Notsituationen verhält, wie viel Unterstützung er braucht und wie ich ihm dabei helfen kann, seine Angst zu regulieren. Mir vorzustellen, er wäre wie Arian allein, ist furchtbar.

Der vermisste Junge wurde mit Luftballons und Kinderliedern gesucht, sogar mit Lasershows. Konnten Sie das nachvollziehen? 
Ja, aber Kinder im Autismus-Spektrum reagieren auf ganz unterschiedliche Dinge. Was sie anlockt oder ängstigt, ist immer individuell. Für unseren Sohn sind laute Geräusche ein großes Problem: Die Kinderlieder hätten ihn nicht aus einem Versteck gelockt.

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Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Sohn Autist ist?
Es war wie bei vielen Eltern ein langer Weg. Wir haben in der Kleinkindzeit schon Abweichungen in der Entwicklung beobachtet. Es wurden viele einzelne Diagnosen gestellt, die alle schon in das Autismus-Bild passten, aber es fehlte lange ein umfassender Gesamtblick. Die Diagnose Autismus haben wir dann vor zwei Jahren bekommen.

Hat Sie die Diagnose erleichtert?
Wir haben dadurch Anspruch auf Hilfen, beispielsweise eine Schulbegleitung, es gibt einen Nachteilsausgleich in der Schule und eine Einzelfallhilfe, und auch im Außen gibt es mehr Verständnis mit so einer Diagnose. Und ich konnte mich gezielt informieren. Ich glaube, man kann nicht nachfühlen, wie sich ein Leben mit Autismus-Spektrum anfühlt, aber es gibt Bücher von Menschen in diesem Spektrum, die Autismus beschreiben und erklären, was wie wahrgenommen wird, was gebraucht wird. Diese Erklärungen sind für mich als Elternteil sehr hilfreich – neben den Beschreibungen meines Kindes.

Als Familie müssen wir eine hohe Flexibilität aufbringen.

Was bedeutet das Leben mit einem autistischen Kind für Ihren Alltag?
Wir haben drei Kinder, und wie in den meisten Familien mit mehreren Kindern ist unser Alltag strukturiert. Unser Sohn im Autismus-Spektrum braucht aber mehr als seine Geschwister feste Abläufe, von denen er nicht abweichen kann. Gleichzeitig müssen wir Eltern und seine Geschwister eine hohe Flexibilität mitbringen, weil immer die Gefahr besteht, dass ihn etwas überfordert, und dann müssen wir unsere Pläne ändern. Mein Mann hat ein Büroraum gemietet in der Nähe der Schule, so dass er unseren Sohn immer sofort abholen kann, wenn er überfordert ist. Das passiert regelmäßig.

Was kann eine Überforderung bedeuten?
Vor einiger Zeit waren wir auf dem Markt zwischen vielen Menschen, es war laut. Das ist eine große Herausforderung für meinen Sohn, auch wenn wir Strategien wie Kopfhörer nutzen. Es gibt aber auch Kinder im Autismus-Spektrum, die empfinden solche Veranstaltungen weniger herausfordernd. Auf dem Markt wurde er von einer fremden Person unvermittelt an den Schultern angefasst. Das kann er nicht gut aushalten.

Was passiert, wenn man Ihren Sohn berührt?
Es ist für ihn noch unangenehmer als für viele andere Kinder, einfach von einer fremden Person berührt zu werden. Auf dem Markt habe ich ihn beruhigt, dann hat die Person, die ihn berührt hat, gesagt: Ach, diese Helikopter-Eltern… Also musste ich erklären, dass er Autist ist und darum bitten, seine Körpergrenzen zu respektieren. Und die sollten immer respektiert werden, bei allen Kindern, finde ich.

Andere Menschen wissen nicht, wie anstrengend es ist, in einem Supermarkt mit lauter Musik einzukaufen.

Es muss ein großer Druck auf Ihnen lasten, die Umgebung möglichst reizarm gestalten zu müssen.
Nein, so schlimm ist es nicht. Mein Sohn kann sehr wohl am Alltag teilnehmen. Ich muss halt im Blick behalten, was zu viel, was zu anstrengend ist. Ich stelle mir nicht die Frage: Wie kann ich mich mit ihm zurückziehen? Ich frage mich eher: Wie kann ich damit umgehen, wie können wir situationen und Erlebnisse gestalten, damit er gut teilnehmen kann? Und ich glaube, es würde unserer gesamten Gesellschaft guttun, die Reize zu reduzieren, freundlicher miteinander umzugehen, einander zu respektieren. Wir haben -neben allen herausforderungen – auch einen sehr schönen Alltag miteinander, und er ist einfach ein wunderbares Kind. Wir Eltern denken nie: Ach, wäre er doch anders.
 

Sie sind nicht nur Diplompädagogin, sondern auch Bestseller-Autorin mehrere Elternratgeber. Hilft Ihnen die Expertise im Alltag oder sind wir vor den eigenen Kindern alle gleichermaßen unprofessionell?
(lacht) Pädagogin zu sein hilft mir schon, weil ich weiß, wo und wie ich mich am besten zum zu einem Thema wie Autismus informieren kann. Manche Therapieansätze sind so fraglich wie die Ratschläge im Netz, dort sind Eltern unter Umständen falsch beraten. Und als Pädagogin habe ich schon vorher Methoden gelernt, starke Gefühle auszuhalten und anstrengende Situationen zu meistern. Natürlich bin ich auch mal erschöpft und weine vor Verzweiflung. Ich bin kein Elternteil mit übernatürlichen Kräften, nur weil ich Pädagogik studiert habe.

Welche Besonderheiten bringen Kinder mit sich, die sich im Autismus-Spektrum bewegen?
Auch hier lässt sich wieder nichts pauschalisieren. Es gibt viele Reize, die stärker wahrgenommen werden oder herausfordernder in der Regulation sind. Einige Menschen im Autismus-Spektrum reagieren mit Stimming darauf, einem Verhalten, das versucht, vor Reizüberflutung zu schützen wie dem Schwingen mit dem Armen, Wippen, Hüpfen oder anderem. Stimming-Toys wie Fidgetbälle und Quetschbälle können helfen – diese sind auch bei neurotypischen Menschen beliebt. Viele versuchen, sich schon etwas zu schützen durch Kopfhörer, Caps, Sonnenbrillen. Ist die Situation sensorisch oder emotional zu überwältigend, kann es auch zu einem Meltdown oder Shutdown kommen: Manche Kinder schreien, weinen, können sich verletzen, oder sie ziehen sich in sich selbst vollkommen zurück. Es ist sinnvoll, diese Reaktionen zu vermeiden, weil das sehr anstrengend ist. Überforderung sollte daher frühzeitig erkannt werden durch die Bezugspersonen wie eben Eltern, Schulbegleitung oder Einzelfallhilfe. 

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Auf welche Weise haben Sie sich als Mensch und Mutter durch Ihr autistisches Kind verändert?
Ich musste mich noch mal neu mit mir auseinandersetzen und mich fragen: Okay, wie schaffe ich es, auch in emotional sehr herausfordernden Situationen ruhig zu bleiben? Gefühle zu begleiten und dabei in mir selbst stabil zu bleiben? Und es hat mich sensibilisiert dafür, wie unsere Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung umgeht. Mit Menschen, die mehr Fürsorge brauchen. Ich bin gesellschaftskritischer geworden, weil ich das Gefühl habe, so oft kämpfen zu müssen. Oft muss ich in allen möglichen Institutionen erklären, was Autismus bedeutet und zum Beispiel sagen: Nein, man kann mein Kind nicht abhärten, das beweist die wissenschaftliche Forschung. Diese Aufklärungsarbeit ist mehr als bei Kindern, bei denen das nicht sein muss. Es gibt viele Fehlinformationen oder Klischees, denen man im Alltag begegnet.

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Sie müssen Haltung beziehen, schon zum Schutze des Kindes.
Ja.

Welche Art von Rückhalt brauchen Eltern autistischer Kinder? 
Ich wünsche mir, dass wir respektvoller miteinander umgehen. Dass wir weder die Kinder noch die Eltern bewerten und verurteilen. Wenn ich unterwegs bin und mein Kind reagiert ängstlich oder schreit, weil alles zu viel ist, dann helfen keine negativen Kommentare. Wir brauchen einen verständnisvollen Blick aufeinander: Ich will nicht den Druck verspüren, mich darum kümmern zu müssen, dass Fremde sich wohlfühlen. In solchen Momenten brauche ich meine Kraft für mich und mein Kind, damit ich ihm helfen kann. Es ist darauf angewiesen, dass ich entspannt bleibe. Aber auch Entlastung und Unterstützung sind wichtig, damit Eltern diese Begleitung leisten können, und liebevolle andere Begleitpersonen wie beispielsweise Einzelfallhilfe. Beratungsangebote für Eltern sind sehr wichtig. Insgesamt ist das Thema Inklusion noch sehr ausbaufähig in Institutionen, aber auch unserer Gesellschaft.

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