Bremervörde: Vermisster Arian: Notfallmediziner schildert größte Probleme

Seit einer Woche wird der sechsjährige Arian aus Niedersachsen nun schon vermisst. Notfallmediziner Gernot Rücker von der Universitätsmedizin Rostock erklärt, wie die Überlebenschancen stehen und worauf es ankommt, wenn der Junge gefunden werden sollte.

Welchen Gefahren ist ein Kind wie Arian ausgesetzt, der seit einer Woche im Freien vermisst wird?
Aus notfallmedizinischer Sicht gibt es drei Probleme: Kälte, Durst und Hunger. 

Welches von ihnen wiegt am schwersten?
Es dauert bis zu 20 Tagn, bis jemand verhungert. Bei Kindern geht es vielleicht etwas schneller, aber nicht in sieben Tagen. Beim Durst ist es etwas anderes: Die körpereigenen Wasserreserven reichen drei bis fünf Tage. Da allerdings in diesem Land und insbesondere im Wald überall Wasser verfügbar ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Kind verdurstet, relativ gering. 

Sie meinen das Wasser aus Pfützen, Tümpeln und Flüssen?
Ja, die reichen als Wasserquelle aus. Es ist zu hoffen, dass das Kind diese Wasserquellen als solche erkennt und annimmt. Rein physisch ist es problemlos möglich, dass der Junge so eine Woche übersteht. Vor etwa einem Jahr gab es den Fall im kolumbianischen Urwald, da haben vier Kinder 40 Tage lang überlebt.

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Hauptsache, man trinkt etwas, auch wenn das Wasser womöglich verunreinigt ist?
Ja, Hauptsache Wasser. Wir reden von Pfützen, da ist vielleicht frisches Regenwasser drin. Oder kleinere Bäche, die es häufig im Wald gibt.

Was ist mit dem Problem der Kälte?
Die Unterkühlung ist aus meiner Sicht das größte Problem. Sobald Kälte und Nässe im Spiel sind, ist das Überleben schwierig. Wer nass ist und unterkühlt, kann innerhalb weniger Stunden erfrieren. Der Junge ist auf Socken unterwegs, das ist ungünstig: Der Boden ist kalt, dann kann er schnell auskühlen. Aber der Frost ist nun vorbei, und die Temperaturen steigen, deswegen ist es unbedingt ratsam, weiter nach dem Jungen zu suchen.

Was passiert im Körper, wenn er unterkühlt ist?
Eine Körpertemperatur über 35 Grad ist im Bereich des Normalen. Bei einer Körpertemperatur von 32 bis 35 Grad ist ein Mensch bereits etwas eingeschränkt. Unterhalb von 32 Grad fängt es an, kritisch zu werden. Der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt langsamer, da geht der Körper in eine Art Kälteschlaf. Gefährlich dabei ist die Begleiterscheinung, die sogenannte Kälteidiotie, wie sie in der medizinischen Fachsprache heißt.

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Was ist das für eine Begleiterscheinung?
Das ist ein Zustand, bei dem Betroffene wie von Sinnen sind. Manche Menschen beginnen dann beispielsweise, sich auszuziehen. Während einer Unterkühlung ziehen sich die Gefäße in den Extremitäten stark zusammen, um den Organismus zu schützen. Das Blut wird dann nur mehr zu den lebenswichtigen Organen transportiert. In diesem Zustand kann er sich nicht mehr selbst helfen und letztendlich auch nicht mehr bewegen

Was kann dieser Zustand noch bewirken?
Er erhöht die Unfallgefahr. Es kann sein, dass Menschen in diesem Zustand in einen Fluss laufen anstatt parallel zum Ufer. Oder dass sie in eine Pfütze stolpern. In diesen Fällen hätten wir das Problem der Kälte und der Feuchtigkeit.

In der Nacht zum Dienstag lagen die Temperaturen in Bremervörde um den Gefrierpunkt. Der vermisste Junge ist im Pullover unterwegs. Lässt sich so eine Nacht überleben?
Ja, es kann sein, dass er weiterhin unterwegs war. Dass er sich einen Schutz gesucht hat. Dass er sich in einem Busch verkrochen hat oder sich mit Blättern oder Astwerk geschützt hat. Es kann sein, dass er ein Tier trifft wie einen Hund, an dem er sich wärmen kann. Das ist theoretisch möglich. So eine Nacht zu überleben, ist möglich. Wenn so ein Kind Schutz findet, kann es problemlos 14 Tage und länger durchstehen.

Unterkühlt ein Kind schneller als ein Erwachsener?
Ja, weil die Körperproportionen anders verteilt sind, und der Körper kleiner ist.

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Was passiert beim Erfrieren?
Man schläft letztendlich ein.

Wie soll man sich verhalten, wenn man ein womöglich unterkühltes Kind im Wald liegen sieht?
Nichts machen, nicht anrühren, und den Rettungsdienst alarmieren! Jedes Rettungsteam in Deutschland weiß, wie man damit umgeht. 

Warum soll man nichts machen?
Der Körperkern hält noch eine Weile die Temperatur, während die Extremitäten und der Außenbereich des Körpers, wir nennen es Körperschale, kalt sind. Wenn Sie so ein Kind aufschrecken, kann es passieren, dass das kalte Blut von außen durch die Körperbewegung ins Körperzentrum reinströmt und einen Herzstillstand auslöst. Das nennt man einen Afterdrop. Und das kann zum Tod führen.

FS Arian Suche aktuell 28.4. 16.08

Was ist, wenn ich als Passantin oder Passant die Unterkühlung nicht erkenne?
Wenn das Kind zusammenbricht, unbedingt die Lebenszeichen überprüfen und sofort mit der Wiederbelebung beginnen. Selbst mit einem Afterdrop hat man in Deutschland eine sehr gute Überlebenschance. In Kliniken mit Herzchirurgie kann man den Betroffenen mit einer Herz-Lungen-Maschine behandeln und den Körper wieder aufwärmen.

Wie funktioniert das genau?
Die Herz-Lungen-Maschine übernimmt dann die Herzfunktion, denn das wird nicht eher wieder anfangen zu schlagen, so lange es kalt ist. Dasselbe macht man bisweilen bei einer Operationen am offenen Herzen. Sie können ja auch nicht bei Windstärke zehn Socken stopfen. Das hat den Vorteil, dass es keine Energie verbraucht und nicht so schnell Zellen untergehen. Die Zellen sind damit wie konserviert. Das Gerät übernimmt den Kreislauf – so lange, bis das Herz wieder anschlägt, und der Körper wieder eine normale Temperatur hat.

Wie lange kann ein Herz stehenbleiben, bevor es weiterschlägt?
Es gibt immer wieder Fälle, in denen Patienten trotz sehr langer Herzstillstandszeit von mehreren Stunden unter Wiederbelebung mit hervorragender Lebensqualität überlebt haben. Wird ein Betroffener oder eine Betroffene innerhalb einer Stunde nach dem Afterdrop ins Krankenhaus gebracht, und das ist eine realistische Zeit, dann sind die Überlebenschancen sehr gut. 

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