Alles ist gut, solange du Hindu bist! Nach dieser Doktrin hat Premier Narendra Modi Indien in den vergangenen zehn Jahren geformt. Dass der Nationalist Regierungschef bleibt, gilt als ausgemacht. Die größte Wahl der Geschichte hat begonnen. Und die wird zur reinen Formalität.
Stunden bevor die ersten Wahllokale am Freitagmorgen öffneten, standen die Menschen Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Eine Supermacht wählt. Der Sieger wird ein schwer selbstbewusster Nationalist im Rentenalter sein, der seinen Anhängern das Paradies auf Erden verspricht und Andersdenkende verachtet. Nein, die Rede ist nicht von den USA. Es geht um Indien. Und damit um die vermutlich eine der wichtigsten, meistignorierte Wahlen der Welt.
Wobei „Wahl“ in dem Fall ein dehnbarer Begriff ist – schließlich steht im Grunde schon fest, wer die absolute Mehrheit abräumt. Die Frage ist, was Narendra Modi, der alte/neue Premierminister und Kultführer damit anstellt.
Der Hindu-Fürst und seine Bollygarchen
Nie war ein indischer Regierungschef so mächtig, nie weniger auf Kompromisse angewiesen. Zwar regiert seine BJP bereits mit absoluter Mehrheit. Doch Modi will mehr, mehr, mehr. Diesmal sollen es mindestens 400 Parlamentssitze werden – ein entscheidender Schritt auf dem Weg, die Verfassung zu ändern. Als Sprössling der hindu-faschistischen Organisation RSS folgt er der sogenannten Hindutva-Ideologie: Aus dem Staat der vielen Völker, Sprachen und vor allem Religionen, will er eine Einheitsnation unter der politisch-kulturellen Herrschaft der hinduistischen Mehrheit formen.
Dass ihm das gelingt, ist trotz wachsender Unzufriedenheit, vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten, kein Wunschtraum. Die Masse hört und sieht, was ihr die Modi-Clique vorsetzt. Im aktuellen Pressefreiheits-Ranking von Reporter Ohne Grenzen, rangiert Indien auf Platz 161 von 180, noch hinter gescheiterten Staaten wie Libyen oder Afghanistan. Immer wieder werden die Social-Media-Konten regierungskritischer Journalisten gesperrt oder ihre Wohnungen durchsucht. Wer Modi allzu scharf angeht, darf sich auf Behördenbesuche freuen – ausländische Medien nicht ausgenommen, wie die BBC vergangenes Jahr erfahren durfte.
In seinen zehn Jahren an der Macht hat Modi Berichten zufolge nicht eine einzige Pressekonferenz abgehalten, seine Freunde redigieren Negativschlagzeilen weg. Allen voran Medienimperator Mukesh Ambani, der reichste Mann Asiens. Medien zufolge fiel der letzte unabhängige Sender 2022 an einen Modi-freundlichen „Bollygarchen“. Seine hyperreichen Kumpel haben es dem Premier ermöglicht, einen regelrechten Personenkult um sich herum aufzubauen. Das Götzenbild: Modi, als strenger, aber fürsorglicher Vater der Nation. Doch der macht kein Geheimnis daraus, wer seine Lieblingskinder sind – und vor allem, wer nicht. STERN PAID Kommentar G20 11.22
Muslime in Indien – 200 Millionen schwarze Schafe
Der Islam stellt die größte religiöse Minderheit im Land. Rund 14 Prozent der Inder sind Muslime, immerhin fast 200 Millionen Menschen. Trotzdem stehen sie für Modi nicht einmal an zweiter Stelle. Seine BJP-Kumpanen beschimpfen Muslime inzwischen offen als „Verräter an der Nation“. Dieser staatlich subventionierte Hass ist auch im Alltag zu spüren.
Nach Modis Hindi-First-Doktrin wurden Städte mit muslimischen Namen umbenannt, Denkmäler geschleift, Geschichtsbücher umgeschrieben und sogar der einzig mehrheitlich muslimische Bundesstaat Kaschmir der Sonderstatus aberkannt und entzweigerissen. Auch die Zahl der Lynchmorde durch bewaffnete Mobs hat Medienberichten zufolge drastisch zugenommen.
Zuletzt machte die Verabschiedung eines neuen Einwanderungsgesetzes Schlagzeilen. Demnach soll es für Menschen, die in Pakistan, Bangladesch oder Afghanistan einer religiösen Minderheit angehören, einfacher werden, die indische Staatsbürgerschaft zu beantragen – solange sie keine Muslime sind. Zeitgleich sollen De-Facto-Inder ohne Papiere schneller ausgewiesen werden können. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass sich arme Muslime, die teils seit Generationen in und vor allem auf dem Land leben, nicht ausweisen können. Ein Teufelskreis: Erst werden sie zu Staatenlosen, dann dürfen sie keine Staatsbürgerschaft beantragen.
Modis einsamer Weg nach oben
Dass in Indien die Grenzen zwischen Gevatter Staat und Staatsvater verschwimmen, dafür gibt es gute Gründe. Laut einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Center bevorzugen 85 Prozent der Inder eine autokratische Herrschaft. Und es ist nicht so, als müsse Modi Konkurrenz fürchten. FS Umbenannte Länder 18.39
Der einzige „Widersacher“ hört auf den Namen Rahul Gandhi. Der ist zwar nicht der Vorsitzende, aber das Gesicht der größten Oppositionspartei, des Indischen Kongresses. Der attraktive Mitfünfziger hat mit seinem ungleich bekannterem Namensvetter Mahatma zwar weniger zu tun als der seinerzeit mit Völlerei, ist aber immerhin der Urenkel von Indiens erstem Premier Jawaharlal Nehru. Als Resultat des jahrzehntelangen Nepotismus steht Gandhi das vermeintliche Besser-Sein ins Gesicht geschrieben. Als Kind des Polit-Establishments wirkt er aus der Zeit gefallen. Selbst wenn es um ein Kopf-an-Kopf-Rennen ginge, hätte er keine Chance gegen den rhetorisch überlegenen, massentauglichen Modi und seinen Großvater-Charme.
Rahul Gandhi, bekanntestes Gesicht des Indischen Nationalkongress
© Sanjeev Verma / Hindustan Times
Zuletzt hatte der oppositionelle INDIA-Block den Wahlkampf zwischenzeitlich sogar aussetzen müssen. Modi hatte die Gelder seiner Gegner eingefroren – wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Wie der „Indian Express“ schreibt, sollen sich seit Modis Regentschaft 95 Prozent der Untersuchungen des Enforcement Directorate, einer Behörde, die gegen Finanzverbrechen vorgehen soll, gegen die Opposition gerichtet haben. Berichten zufolge wurden Korruptionsermittlungen gegen 23 von 25 Oppositionspolitikern eingestellt, nachdem sie zur BJP übergelaufen waren.
Im Grunde steht Indien „ein Referendum über Modis Führung in den letzten zehn Jahren“ bevor, fasst es Milan Vaishnav, Direktor des Südasienprogramms der Carnegie-Stiftung gegenüber der „Japan Times“ zusammen. Spielt der Subkontinent also nur noch Demokratie? Oder tat er das schon immer? „Die indische Demokratie war in erster Linie ein Gentlemen’s Agreement. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hatten damit nichts zu tun“, zitiert „Unherd“ den indischen Ökonomen Pranab Bardhan.
Spätestens, wenn sich am 4. Juni der Staub gelegt hat, dürfte Indiens Transformationen abgeschlossen sein: von der größten Demokratie zur größten Wahlautokratie der Welt.
Weitere Quellen: „Council on Foreign Relations„; „Unherd„; „Conversation„; „Foreign Affairs„; „Japan Times„; „Time Magazine„; CNN