DFB-Sieg gegen die Niederlande: Lob der Zweiklassengesellschaft: Warum die deutsche Nationalmannschaft plötzlich wieder erfolgreich ist

Bundestrainer Julian Nagelsmann wird für seinen Mut belohnt, streng zwischen Stammkräften und Reservisten zu unterscheiden. Die neue Hierarchie sorgt für lange vermisste Klarheit und Struktur im Spiel.  

Das letzte Wort des Abends sollte der Trainer der Gäste haben. Also straffte sich Ronald Koeman, ein Mann mit teigiger Hüfte, noch mal kurz, bevor er ins Mikrophon sprach. Sein rosiges Gesicht harmonierte dabei aufs Schönste mit dem Oranje der Werbetafel im Hintergrund; besser kann sich ein Fußballtrainer der Nationalfarbe seines Landes nicht anverwandeln. 

Zu seinem Glück sollte Koeman nicht Auskunft geben zur Leistung seiner Mannschaft, der Nederlands voetbalelftal, denn die hatte gerade 1:2 verloren. Die Frage an den Bondscoach lautete, wie er denn dieses Deutschland einschätze, das den Seinen gerade eine Niederlage zugefügt hatte, welche Chancen es besitze bei der EM im Sommer.

Da musste der Bondscoach schmunzeln. „Erst glaubten sie, eine negative Phase zu haben, weil sie zwei Spiele verloren haben“, sagte er. „Und jetzt haben sie eine positive Phase, weil sie zwei Spiele gewonnen haben, und sofort heißt es: Sie können Europameister werden. Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.“

Koeman, 61, war mal ein gefürchteter Verteidiger, Abwehrchef des FC Barcelona in den früher 1990er-Jahren. Lange her, aber die Kunst der Grätsche beherrscht er noch immer. Am Dienstag, um kurz vor Mitternacht, ist Koeman den Deutschen mal kurz mit offener Sohle in ihre sogenannte EM-Euphorie reingerauscht. So großartig seid Ihr auch wieder nicht, wartet ab, Freunde, wir treffen uns im Sommer wieder – das war der Subtext von Koemans Abschiedsgruß im Keller des Frankfurter Stadions. 

FRA_GER 8.30

Deutschland gegen die Niederlande: Der DFB hat wieder eine Abwehr

Womöglich würde ihm sein deutscher Kollege Julian Nagelsmann sogar zustimmen, in Teilen jedenfalls, denn der ist gerade damit beschäftigt, die Gefühlswallungen rund um sein Team einzuhegen. „Natürlich freue ich mich über den Sieg“, sagte Nagelsmann, „ich weiß aber auch, dass noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns liegt.“ Die Partie gegen die Niederlande sei „ein geiles Spiel zum Analysieren, da steckt so viel drin.“

Womit Nagelsmann recht hatte. Wenn er das Video vor- und zurückspult in den nächsten Tagen, wird Nagelsmann erkennen, dass die Mängelliste merklich kürzer geworden ist. Das größte Problem, die wackelige Defensive, eine Erblast aus der Ära Löw, ist sogar behoben: In Maximilian Mittelstädt ist ein neuer Linksverteidiger gefunden, rechts außen verteidigt Joshua Kimmich, und in der Mitte wachen Antonio Rüdiger und Jonathan Tah. Diese Abwehrreihe hatte sich schon am Samstag beim 2:0 gegen den WM-Zweiten Frankreich bewährt, und gegen die Niederlande ragte die Viererkette erneut heraus. 

Noch im November, nach den Niederlagen gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2), hatte Nagelsmann resigniert festgestellt, „dass wir keine Verteidigungsmonster sind – das sind wir einfach nicht.“ 

Nun aber muss er erkennen, dass zumindest die beiden Innenverteidiger Weltklasse sind (in Nagelsmanns Worten: Monster). Antonio Rüdiger und Jonathan Tah riegelten nicht nur das Zentrum ab, Rüdiger schlug sogar einige Mats-Hummels-Gedenkpässe mit einer Reichweite von 30 bis 40 Metern. Rüdiger, der Abwehrchef von Real Madrid, macht so etwas nur, wenn er sich sicher fühlt. Wenn er weiß, dass andere ihm vertrauen. Er ist ein Hüne mit einer Kinderseele. 

Es ist das Verdienst von Julian Nagelsmann, dass die Mannschaft den Glauben an sich selbst wiedergefunden hat. Der Trainer hat eine erstaunliche Wandlung durchgemacht seit den dunklen Novembertagen mit den Türkei- und Österreich-Spielen. Das Konzept von einst hat er zerrissen. 

Peter Schilling 19.30

Auch Nagelsmann hat sich angepasst

Im Herbst glaubte er noch, dass es genüge, die feinsten Füße Deutschlands gemeinsam auf den Platz zu stellen – alles andere würden die kleinen Genies schon selbst lösen. Heute weiß Nagelsmann, dass es neben den Hochbegabten auch Arbeiter braucht, eckige Typen wie den Leverkusener Robert Andrich. 

Nagelsmann hat sich getraut, die Mannschaft hierarchisch zu gliedern. Er hat den Ersatzspielern gesagt, dass es bessere gibt als sie und dass sie bei der EM nur wenige Minuten Einsatzzeit bekommen werden. Kein Trainer führt solche Gespräche gern. Manche halten sie sogar für einen Fehler – das Stigma „Reservist“ kann schließlich auch demotivierend wirken. Es kann eine Mannschaft spalten, sie zerrütten. 

All dies ist nicht passiert. Nagelsmann hat den Umbau des Teams in eine Zweiklassengesellschaft mit Feingefühl moderiert; jeden Spieler hatte er während des Lehrgangs in der vergangenen Woche zu einem Rollengespräch eingeladen. Seitdem herrsche „Klarheit in der Mannschaft“, sagte Niclas Füllkrug am Dienstagabend, „jeder weiß, woran er ist und was er zu tun hat.“

Füllkrug, bis vor kurzem noch Stürmer Nummer eins im Nationalteam, ist selbst zu einem Rollenspieler geworden. Sowohl gegen Frankreich als auch gegen die Niederlande durfte Kai Havertz beginnen. Aber als Füllkrug dann am Dienstag eingewechselt wurde, drehte er wenig später das Spiel. Mit der Schulter erzielte er das 2:1 nach einem Eckball, den der ebenfalls eingewechselte David Raum herausgeholt hatte. 

Zu gern hätte sich Julian Nagelsmann diese Szene noch einmal angeschaut mit seiner Mannschaft. Aber dazu bleibt keine Zeit, an diesem Mittwoch endet die gemeinsame Zeit, man trifft sich erst Ende Mai wieder zu einem Trainingslager in der Nähe von Weimar. Bis dahin, sagte Nagelsmann, „müssen wir dieses positive Gefühl, dieses Momentum irgendwie rüberretten“.

Kein leichtes Unterfangen, denn Ronald Koeman, der Meister der Verbalgrätsche, hat sicherlich etwas dagegen.

 

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