Gender-Medizin : Weiblich, herzkrank, tot: Der Mann als Norm kann für Frauen lebensgefährlich sein

Manchmal funktionieren die Körper von Frauen anders als die von Männern – mit teils dramatischen Folgen. 

Man muss schon genau hinschauen, um das Wesentliche zu sehen – und die junge Kardiologin Margarethe Hochleitner tat genau das. Als sie sich Ende der 70er-Jahre auf der Intensivstation ihres Krankenhauses umsah, stellte sie fest, dass fast alle Herzkranken Männer waren. „Ein Blick in die nationale Statistik der Todesursachen verriet jedoch, dass Herz-Kreislauf-Krankheiten auch für Frauen der größte Killer waren“, erzählt Hochleitner heute. Sie nahm sich die Daten zur Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Herzschrittmachern vor. Das Ergebnis: Es waren vor allem Männer, die das Gerät zur Unterstützung ihres Herzens bekamen.

„Da fragt man sich natürlich, was für Krankheiten diese armen Frauen haben“, sagt Hochleitner, die mehr als 15 Jahre als Professorin für Gendermedizin und Direktorin des Frauengesundheitszentrums der Medizinischen Universität Innsbruck gearbeitet hat. „Sie müssen nicht auf die Intensivstation, sie brauchen keinen Schrittmacher, aber am Ende sterben sie doch an einem kaputten Herzen – das passt doch nicht zusammen.“ Damals, Ende der 70er-Jahre, war ihr schnell klar, dass etwas mit der medizinischen Versorgung von Frauen nicht stimmen konnte.

Böswilligkeit will Hochleitner niemandem unterstellen. „Frauenherzen haben allerdings bis heute ein Awareness-Problem“, sagt die Ärztin, die heute Ausbildungsbeauftragte für Gendermedizin bei der österreichischen Ärztekammer ist. Und meint damit: Es wird schon mal weniger genau hingeguckt. Über weite Strecken des vergangenen Jahrhunderts galten Herzkrankheiten als ein Problem von Männern. Nach einem Leben des heroischen Hocharbeitens war es – so glaubte man – vor allem ihr Pumpmuskel, der irgendwann versagte. Die einzige Rolle, die man den Frauen in dieser Erzählung zugedacht hatte, war die der aufopferungsvollen Kümmerinnen. Die amerikanische Herzgesellschaft veranstaltete in den 1960er-Jahren sogar eine Konferenz zum Thema „Wie kann ich meinem Mann helfen, mit einer Herzerkrankung umzugehen?“. Für das Frauenherz interessierte sich damals niemand.

Die US-Kardiologin Nanette Wenger (hier 1981) ist eine Pionierin der „geschlechtersensiblen Medizin“
© Fairfax Media via Getty Images

Die männliche Norm

Schließlich war auch sonst der Mann die Norm in der Medizin. Die meisten Beipackzettel von Medikamenten beruhten auf Untersuchungen an mittelalten weißen Männern. Und selbst als später Frauen an klinischen Studien teilnehmen durften, wurde nur selten überprüft, ob das Geschlecht beim Ergebnis einen Unterschied machte.

Wie gefährlich dieser „One size fits all“-Ansatz sein kann, zeigt das Beispiel Digoxin. Nachdem amerikanische Kardiologen dem Wirkstoff 1997 erst eine überzeugende Wirksamkeit bei der Behandlung von Herzschwäche bescheinigt hatten, musste ihre Schlussfolgerung fünf Jahre später in einem entscheidenden Punkt geändert werden. Denn inzwischen hatte man die Studienergebnisse nach Geschlechtern getrennt analysiert. Und dabei zeigte sich, dass Frauen durch die Medikamente nicht etwa gesünder wurden – sondern früher starben. Auch bei anderen Herzmitteln stellte sich heraus, dass sie bei Frauen zu mehr Nebenwirkungen führen, etwa zu gefährlichen Herzrhythmusstörungen, oder dass sie anders dosiert werden müssen.

Demografischer FaktorSchon die Veränderung in der Alterszusammensetzung der Bevölkerung allein bewirkt eine Zunahme der Herzdiagnosen: Von 2011 bis 2021 nahm die Zahl von Männern ab 80 Jahren in Deutschland um 69,3 Prozent zu, die der Frauen in dieser Altersgruppe um 30,4 Prozent.
© Bettina Müller

Allerdings ist dieses Wissen selbst Jahrzehnte später noch nicht überall angekommen, sagt Margarethe Hochleitner, die sich seit Langem für mehr Aufklärung einsetzt. In Deutschland ist die Lehre von den medizinischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern bislang nur an sehr wenigen Universitäten fest in den Lehrplan integriert. Viele Studierende wissen kaum etwas über das Thema. Und auch den Frauen in der Bevölkerung fehlt es an Informationen.

STERN PAID 13_24 Titel Herz Frieda

Bestes Beispiel ist der Herzinfarkt, der bei Frauen durchaus auftritt – wegen der schützenden Wirkung des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen aber oft erst später im Leben als bei Männern. Auch die Symptome können andere sein. Jahrzehntelang wurden die Menschen darauf trainiert, nur auf den Vernichtungsschmerz in der Brust zu achten, der einen in Hollywood-Pose zu Boden ringt. „Vor allem Frauen aber klagen oft auch – oder nur – über Müdigkeit, Erbrechen, Schwindel, Oberbauchschmerzen oder Rückenschmerzen“, sagt Viyan Sido, Fachärztin für Herzchirurgie am Asklepios-Krankenhaus in Hamburg. Nicht nur der Rettungsdienst tippt dann vielleicht auf Bandscheiben- oder Magenprobleme. „Auch viele Patientinnen wissen ihre Beschwerden nicht zu deuten – oder spielen sie herunter, weil sie niemandem zur Last fallen wollen“, sagt Sido. Die Folge: Frauen mit Herzinfarkt kommen später ins Krankenhaus als Männer.

„Ich stelle meinen Studierenden gern die Frage: Stellen Sie sich vor, eine ältere Frau liegt in Innsbruck auf dem Gehsteig – oder ein älterer Mann. Was, glauben Sie, passiert? Beim Mann rufen die Studierenden gleich: Sofort einen Notarzt holen, er könnte ein Herzinfarkt haben. Bei der Frau wird darüber diskutiert, ob sie unterzuckert ist oder einen Kreislaufkollaps hat. Das ist schon frustrierend.“

Bikini-Medizin für Frauen

Dieser „Gender Bias“ genannte Verzerrungseffekt beeinflusst die Medizin bis heute – und nicht nur beim Herzinfarkt. So haben Frauen auch ein unverhältnismäßig hohes Risiko, an einem Schlaganfall zu sterben, schrieb Nanette Wenger erst im Februar dieses Jahres in einem Beitrag für eine amerikanische Fachzeitschrift. Die 93-Jährige gehört bis heute zu den angesehensten Kardiologinnen und Wissenschaftlerinnen für Frauengesundheit. Seit Jahrzehnten erforscht sie, wie sich Frauen- und Männerherzen unterscheiden. Anfang der 90er-Jahre prägte sie den Begriff „Bikini-Medizin“ – weil sich die Forschung an und für Frauen lange Zeit nur auf Brüste und Fortpflanzungsorgane konzentrierte. Den Rückstand des Wissens über Frauenkörper spüren wir bis heute: Noch immer, schreibt Wenger, würden Frauen bei einem Schlaganfall seltener vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht als Männer. Sie erhielten seltener die richtige Diagnostik. Und bekämen seltener das Medikament, mit dem ein Blutgerinnsel im Gehirn auflöst werden kann.

PAID Interview Sido Gender-Medizin 17.24

Mit der Diagnostik sei es ohnehin so eine Sache, sagt Margarethe Hochleitner. Bei Männern etwa ist die Fahrrad-Ergometrie der Goldstandard für das Erkennen von koronaren Herzkrankheiten. „Bei Frauen aber liefert das Belastungs-EKG oft falsche Ergebnisse.“ Manchmal brauche es dann eher eine Computertomografie der Herzkranzgefäße oder eine Kernspin-Untersuchung.

Herzuntersuchung bei einem angehenden Soldaten Anfang des 20. Jahrhunderts. Dass auch Frauen herzkrank werden, war damals kaum bekannt
© Bridgeman Images

Im Grunde fängt die Liste der Ungleichheiten sogar schon bei den Risikofaktoren an. So haben Frauen mit Diabetes mellitus ein höheres Risiko, später einmal an einer Herzschwäche zu erkranken, als Männer. Auch Rauchen, Autoimmunerkrankungen und Stress scheinen bei ihnen mehr ins Gewicht zu fallen als bei Männern. Das Broken-Heart-Syndrom etwa, eine durch körperlichen, aber auch durch erheblichen emotionalen Stress ausgelöste Funktionsstörung der Herzadern, trifft ganz überwiegend Frauen. Und was kaum eine Frau weiß: Leidet sie während der Schwangerschaft unter Bluthochdruck, hat sie ein zwei- bis vierfach höheres Risiko, ein paar Jahre nach der Entbindung chronischen Bluthochdruck zu entwickeln. Selbst Fehlgeburten gehören zu den Risikofaktoren für eine spätere Herzkrankheit.

Am Ende sterben in Deutschland mehr Frauen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als an Krebs und Lungenleiden zusammen. Doch längst nicht alle wissen um dieses Risiko. Was also kann man Frauen raten? „Hört auf euren Körper“, sagt die Herzchirurgin Sido. „Nehmt eure Symptome und eure Gesundheit ernst.“ Gerade Frauen hätten oft das Gefühl, sie könnten ihre Verpflichtungen in der Familie und im Beruf nicht ruhen lassen. In Herzensangelegenheiten aber kann das lebensgefährlich sein.

Verwandte Beiträge